„Rogge ist kein Diktator“

Leipzigs Olympia-Bewerbungschef Peter Zühlsdorff erklärt, worum es bei der heutigen Entscheidung in Lausanne wirklich geht: Ob das IOC tatsächlich dazu bereit ist, sich vom Gigantismus zu lösen

INTERVIEW FRANK KETTERER

taz: Herr Zühlsdorff, wie gut kennen Sie die Konkurrenten?

Peter Zühlsdorff: Bis auf Havanna kenne ich alle Städte persönlich ganz gut. Und wenn ich in den Questionnaire reinschaue, dann habe ich auch eine sehr gute Vorstellung, was in der jeweiligen Bewerberstadt geplant ist. Außerdem werden wir natürlich laufend mit Informationen versorgt. Also da gibt es schon einen regen Informationsfluss aus allen möglichen Quellen.

Das heißt, man beobachtet sich gegenseitig und schaut, was die Konkurrenz so zu bieten hat?

Aber natürlich. Das ist doch völlig normal und gehört durchaus dazu.

Und: Was haben die anderen, was Leipzig nicht hat?

Da ist nichts, worüber ich mir Gedanken mache. Was die anderen haben und wir nicht, das können wir ja nicht ändern oder abstellen. Was wir tun können, ist, uns auf unsere Stärken zu konzentrieren und diese Stärken angemessen darzustellen.

Nur zu! Welche Stärken hat die Leipziger Bewerbung?

Die Grundstärke Leipzigs liegt im konzeptionellen Ansatz. Wenn man der Idee der kompakteren Spiele folgt – also näher am Menschen, näher an den Sportlern –, dann hat Leipzig ganz klar den Vorteil, Spiele im Herzen der Stadt bieten zu können. Die ganze Stadt würde für die Dauer der Spiele und der sich anschließenden Paralympics zum olympischen Dorf; der Rhythmus Leipzigs würde während Olympia ein anderer sein. Das kann keine dieser Weltstädte bieten. Sie können den Rhythmus von Paris oder London oder New York nicht anhalten oder ändern. Auch dort würden die Spiele zwar ein sehr bedeutendes Ereignis sein, aber doch nur eines unter mehreren. In einer Region wie Leipzig aber gäbe es in dieser Zeit nichts anderes als Olympia.

Wer von den acht Mitbewerbern könnte die Spiele 2012 Ihrer Meinung nach ausrichten?

Da habe ich keine Meinung zu. Ich gehe aber davon aus, dass jede Stadt sich nach bestem Wissen und Gewissen beworben hat – und deshalb jeder Bewerber die Spiele prinzipiell ausrichten könnte.

Sie haben keine Streichkandidaten?

Nein. Es ist nicht mein Job, Kandidaten zu streichen.

Weil Sie sonst womöglich Leipzig streichen würden?

Nein. Das hat damit nichts zu tun. Ich bin kein IOC-Mitglied, und deshalb habe ich nichts zu entscheiden und nichts zu befinden. Dazu fehlen mir auch die letzten internen Kenntnisse, die so ein IOC-Entscheider hat, auch durch seine Erfahrung.

In IOC-Kreisen hingegen scheint eine schwarze Liste durchaus vorhanden. Dem Vernehmen nach stehen darauf: Havanna, weil es keine entsprechende Infrastruktur besitzt, Istanbul, weil es als Sicherheitsrisiko gilt, und eben Leipzig.

Es gibt im Augenblick so viele Gerüchte, da kann ich nichts drauf geben. Zumal ich davon ausgehe, dass das ein oder andere Gerücht in erster Linie von Wunschdenken bestimmt wird. In Istanbul war ich beispielsweise vor einem halben Jahr. Das ist eine Traumstadt – und ich kann mir durchaus vorstellen, dass dort Olympische Spiele stattfinden könnten.

Nach dem Besuch von Jacques Rogge hat Leipzigs Oberbürgermeister Wolfgang Tiefensee Wert darauf gelegt, dass man dem IOC-Präsidenten „auch die Schattenseiten“ der Leipziger Bewerbung nicht verschwiegen“ habe. Was hat man ihm gezeigt?

Es ist ja unübersehbar, dass in Leipzig, wenn man nicht gerade die Paradestraßen abfährt, in Sachen Straßenbau noch sehr, sehr viel zu tun ist. Es sind sowohl von der Bausubstanz her als auch infrastrukturell noch eine ganze Menge Dinge zu reparieren oder wieder in den Normalzustand zu bringen. Wir haben für Herrn Rogge kein Potemkin’sches Dorf gebaut, sondern beispielsweise auch über das ehemalige Braunkohletagebaugebiet im Süden gesprochen, das ja eine hochgradige ökologische Schande war und derzeit langsam zu einem Naherholungsgebiet umgestaltet wird.

Wie hat Herr Rogge auf die Schattenseiten reagiert?

Er hat sich im Detail nicht geäußert. Aber Herr Rogge hat uns den Eindruck vermittelt, dass er sich während seines Besuchs in Leipzig wohl gefühlt hat. Daraus irgendetwas zu schließen, wäre aber völlig falsch.

Prinzipiell zählen die Verkehrsfrage sowie die der Unterkünfte zu den Schwachstellen der Leipziger Bewerbung. Wie konnten Sie glaubhaft machen, dass diese Schwächen bis 2012 beseitigt sind?

Bei der Infrastruktur sehen wir keine dramatischen Schwächen. Man muss ja immer im Auge behalten, das die Stadt Leipzig heute 500.000 Einwohner hat, ihre Infrastruktur aber für 750.000 Einwohner gebaut ist; das war nämlich die Größe der Stadt vor dem Krieg. Um die Logistik in den Griff zu bekommen, bedarf es nach dem heutigen Planungsstand vor allem des City-Tunnels, der den großen Mengentransport innerstädtisch auf Schiene bewegen würde.

Bliebe die Hotel- und Unterbringungsproblematik.

Das Thema macht aus unserer Sicht die Leipziger Bewerbung gerade besonders. Die Frage wurde ziemlich hochgekocht, warum auch immer. Im Prinzip geht es lediglich um die so genannten „Residence Hotels“. Für Leipzig sind da 7.500 Zimmer vorgesehen. Wir wollen die dadurch schaffen, dass bereits vorhandene Bausubstanz rekonstruiert oder renoviert wird und später daraus rund 3.000 Wohnungen entstehen können, was auch ganz im Sinne der Nachhaltigkeit wäre. Das kann man eigentlich nicht besser machen, zumal wir nun mal keinen Hafen haben, indem Hotelschiffe anlegen können. Herr Rogge hielt unsere diesbezügliche Planung übrigens für eine innovative Idee.

Heute geht es in erster Linie um die Abfrage technischer Daten. Papier ist bekanntermaßen geduldig. Wie sehr kann da geschummelt werden?

Mit so was beschäftige ich mich gar nicht. Aber was die Glaubwürdigkeit der von den Bewerbern angegebenen Konzepte angeht, gibt es für die Entscheider ja die Möglichkeit, einen Bonus- oder Malusfaktor zu vergeben, der zwischen 0,8 und 1,2 schwankt. Letztendlich aber geht es bei der Entscheidung ohnehin auch um eine grundsätzliche Einschätzung.

Inwiefern?

Ob eben Leipzig mit seinem Konzept von kompakten Spielen im Herzen der Stadt, als Region mit 1,5 Millionen Menschen, Olympische Spiele auszurichten kann.

Jacques Rogge hat vermehrt darauf hingewiesen, dass die Größe der Stadt keine Rolle spielt. Glauben Sie ihm das?

Ja. Herr Rogge macht auf mich einen absolut integren und geradlinigen Eindruck. Nur muss man auch sehen: Wenn eine Organisation, die über Jahre in eine bestimmte Richtung gelaufen ist, nämlich die der Größe, zu der Erkenntnis kommt, die Richtung ändern zu müssen, dann ist damit noch nicht unbedingt gesagt, dass alle Menschen im Kopf dies auch gleich tun. Manche Dinge kann man nicht von heute auf morgen ändern, das braucht seine Zeit. Ich bin davon überzeugt, dass Herr Rogge meint, was er sagt, aber er ist kein Diktator, der das von oben bestimmen möchte. Es muss sich einfach zeigen, wie sehr sein Wunsch auch in den Köpfen der anderen IOC-Mitglieder verwurzelt ist.

Glauben Sie, dass das der Fall ist?

Dafür kenne ich das IOC noch zu wenig. Ich bin ja erst seit fünf Monaten mit dem Thema Olympia und IOC zugange und erst noch am Begreifen, wie die Mechanik genau funktioniert.

Welchen Einfluss hat Jacques Rogge auf die Wahl?

Das kann ich nicht sagen. Er selbst hat ja keine Stimme.

Athen schreibt nach wie vor Hiobsbotschaften. Wie sehr kommt das der Leipziger Bewerbung entgegen, nach dem Motto: Wenn wir die Spiele nach Deutschland vergeben, wissen wir wenigstens, dass die Sportstätten rechtzeitig fertig werden?

Das sollten Sie beim IOC nachfragen. Ich kann natürlich nicht ausschließen, dass solche Gedanken bei dem ein oder anderen im Kopf sind, bin aber davon überzeug, dass in Athen sehr gute und sehr schöne Spiele stattfinden werden.

Auch Leipzig hat bereits negativ auf sich aufmerksam gemacht, Stichwort Filz und Korruption. Wie sehr könnte das heute eine Rolle spielen?

Diese unschönen Geschichten haben hierzulande wesentlich mehr Wirbel gemacht als international. Unsere Mitbewerber haben sicherlich vor sich hin geschmunzelt, ich glaube aber nicht, dass es beim IOC Spuren hinterlassen hat. Dort ist man einfach froh, dass das Thema, auf die Bewerbung bezogen, zu Ende ist.

Was, wenn es heute doch schief gehen sollte und Leipzig ausscheidet?

Egal, wie es ausgeht, können wir sagen: Wir haben unser Bestes gegeben. Da braucht sich niemand Vorwürfe zu machen. Wenn wir es nicht schaffen, dann lag das an Punkten, die wir nicht beeinflussen konnten.

In anderen deutschen Städten scheint man darauf, also auf Leipzigs Scheitern, nur zu lauern. Hamburg beispielsweise hat für diesen Fall bereits angekündigt, sich für die Spiele 2016 bewerben zu wollen. Fehlt es Leipzig an gesamtdeutscher Unterstützung?

Ach wissen Sie, da ist vielleicht auch viel Wahlkampf dabei. Außerdem kann ja keine Stadt von sich aus sagen, dass sie sich um die Spiele bewerben will, das muss ja zunächst das NOK entscheiden. Was die gesamtdeutsche Unterstützung angeht, so bin ich der Meinung, dass in dem Maße, in dem wir mit Leipzig weiterkommen, auch die Solidarität und Begeisterung wachsen wird.

Würde Leipzig im Falle des Scheiterns ein zweites Mal in den Ring steigen?

Das kann ich nicht sagen. Wenn beispielsweise für 2012 eine europäische Stadt ausgewählt wird, dann kann ich mir nicht vorstellen, dass das deutsche NOK sagt: Wir bewerben uns für 2016 wieder. Das hätte wahrscheinlich wenig Erfolgsaussichten.

Wie geht es weiter, wenn Leipzig die erste Hürde überspringt und „candidate city“ wird?

Dann werden wir einfach alles dafür tun, auch am 6. Juli nächsten Jahres, wenn das IOC die Olympischen Spiele endgültig vergibt, so gut wie möglich abzuschneiden.