Das Paradies im Ersten

Mit der Serie „Familie Dr. Kleist“ landet die ARD den großen Quotenerfolg. Und auch sonst setzt das Erste gerne auf Heimatfilmidylle – als Kontrast zur bösen, realen Welt da draußen

„Ich habe mir geschworen, dass ich mit der Natur wieder ins Reine komme“

VON CLEMENS NIEDENTHAL

„Wo ist zu Hause, Mama?“, hat sich Johnny Cash einmal und sogar auf Deutsch gefragt. Würde Cash, der ewig Heimatlose, in diesen Tagen noch auf Erden weilen, vielleicht hätte er im Ersten die ersehnte Antwort gefunden. Wahrscheinlicher aber würde sich der Mann in Schwarz fassungslos abwenden – abwenden von all der rosaroten Harmonielehre, die uns die ARD neuerdings als Heimstatt verkauft.

Wie damals nach der einen, riesengroßen Krise scheint es auch für all die kleineren Krisen der Spätmoderne ein geeignetes Narrativ zu geben: Der Heimatfilm ist ins öffentlich-rechtliche Fernsehen zurückgekehrt. Und wie damals in den wirtschaftswundernden Fünfzigerjahren sind die Bösen wieder böse, die Guten immer noch gut und die Quoten noch viel besser. Bis zu 25 Prozent Marktanteil und damit beispielsweise „Tatort“-Niveau erreicht etwa die vom Mitteldeutschen Rundfunk produzierte „Familie Dr. Kleist“ Dienstag für Dienstag zur besten Sendezeit um 20.15 Uhr. Ein im Schatten der Wartburg platziertes Familienidyll, das seine heilsstiftende Botschaft gleich im Pilotfilm entworfen hat: Die Flucht aus den Fängen des Urbanen, die den Menschen wieder Frieden, Liebe und – Heimat finden lässt.

Dr. Christian Kleist – ehedem Kardiologe im Babylon Berlin – findet sein Paradies in der thüringischen Provinz, unweit vom Rosenwunder der heiligen Elisabeth. Andere finden ihr „Paradies in den Bergen“, wovon gerade erst ein neunzigminütiges Almbauer-versus-Staranwalt-Märchen im ARD-Abendprogramm kündete. Auch dieses im Übrigen eine MDR-Produktion.

Aber ist der Heimatfilm wirklich zurückgekehrt? War er nicht, in einem Forstrevier im Bayrischen Wald etwa, all die Jahre und bei unerschütterlicher Quotenkontinuität quicklebendig präsent? Im „Forsthaus Falkenau“ wie im Eisenach der „Familie Dr. Kleist“ – beides Orte, die abseits der Routen eines globalisierten Europas liegen – entscheiden sich die Protagonisten für ein Leben am Rand. Und damit, so der Umkehrschluss, gegen ein Leben am Abgrund.

„Ich habe mir geschworen, dass ich hier oben mit der Natur wieder ins Reine komme“, darf der Dorfmensch, ein drahtiger Bergbauer, sein „Paradies in den Bergen“ ganz in diesem Sinne postulieren. Derweil der Stadtmensch in gehetztem Idiom von den „zähen Verhandlungen mit dem Konsortium“ berichtet. Und wenn ein Hansi Hinterseer, singender und längst auch schauspielender Ex-Skiweltmeister, sein breites Tirolerisch anstimmen darf, wird das auch zum Kommentar gegen die durchökonomisierten Sprechweisen einer längst nicht mehr ganz so Neuen Mitte. Zu hören etwa in „Da wo die Heimat ist“, am vergangenen Freitag im – erraten – Ersten.

Im neuen, neokonservativen Heimatfilm lecken auch jene ihre Wunden, die den Gegenwert eines Wochenendhäuschens weiland an der in den Mainstream gutbürgerlicher Lebensstile eingedrungenen Börse verspekuliert haben. Und die sich nun Orientierung von überschaubar dimensionierten Sinneinheiten versprechen. Da passt dann auch ein in Großaufnahme gefilmter Rosenkranz wieder ins Bild einer säkularisierten Gesellschaft. Oder ist es – umgekehrt – gerade Indiz jener säkularisierten Gesellschaft, dass sie den Rosenkranz nur mehr mittelbar via Fernsehmonitor begehrt?

Überhaupt scheinen Filme wie „Paradies in den Bergen“ und Serien wie „Familie Dr. Kleist“ letztlich vor allem Orte zu imaginieren, die sich aus der gesellschaftlichen Mitte verabschiedet haben: das solidarische Miteinander der Dorfgemeinschaft, das umtriebige Vereinsleben der freiwilligen Feuerwehr, das Eins-Sein mit der Natur auf den naturbelassenen Almwiesen.

Der Heimatfilm konstruiert sich und seinen immer zahlreicher werdenden Zuschauern eine Welt, die es nicht mehr gibt und die es wahrscheinlich nie gegeben hat. Trotzdem oder gerade deswegen bleibt er das Gegenteil einer gesellschaftlichen Utopie: weniger Aufbruch-, denn Abbruchunternehmen.