Gerechtigkeit aus Sorge ums Geschäft

Die Entschädigungen der NS-Zwangsarbeiter werden endlich ausgezahlt, da bilanzieren zwei Bücher die Verhandlungen zwischen Industrie und Opferverbänden. Während Stuart E. Eizenstat nüchtern resümiert, macht sich Susanne-Sophia Spiliotis unkritisch die Haltung der Industrie zu Eigen

von CHRISTIAN SEMLER

Erfreuliche Regie des Zufalls: Dieses Frühjahr erschienen fast zeitgleich zwei Arbeiten zur Entschädigung der NS-Opfer von Zwangsarbeit und Enteignungen. Beide sind aus der „Binnenperspektive“ geschrieben und behandeln langwierige, quälende Verhandlungsprozesse. Das Drama spielt ausschließlich auf der Königsebene der Mächtigen: Handelnde Personen sind Industriemanger, Banker, Regierungsbeamte, Politiker, Vertreter der Opferorganisationen und die diversen Anwaltskanzleien.

Autor Nr. 1 ist Stuart E. Eizenstat, ehemals Mitglied der amerikanischen Regierung. Er war führend an den Verhandlungen über Raubgold und namenlose Konten mit den Schweizer Großbanken beteiligt und vertrat die US-Regierung auch bei den Verhandlungen mit Deutschland und Österreich zur Entschädigung der Sklaven- und Zwangsarbeiter. Autorin Nr. 2., die Historikerin Susanne-Sophia Spiliotis, heuerte im Jahr 2000 als Leiterin der Forschung im Arbeitsstab der deutschen Zwangsarbeiter-Stiftungsinitiative an. Sie konnte Akten einsehen, Gespräche führen, verfügte also über einen Eizenstat vergleichbaren Informationsstand.

Die Vorgehensweise beider Autoren ist allerdings ziemlich unterschiedlich. Eizenstats Bericht erweist sich für Politikerverhältnisse als erstaunlich offenherzig, geizt nicht mit deftigen Details und verzichtet weitgehend auf Selbstbeweihräucherung. Spiliotis’ Arbeit hingegen bahnt zwar verdienstvollerweise einen Pfad durch den komplizierten politischen und juristischen Dschungel der Verhandlungen, doch sie gibt getreulich den Standpunkt der deutschen Manager wieder, die die Stiftungsinitiative auf den Weg brachten. Ihr Buch ist eine Art Auftragsarbeit: diskret, zurückhaltend, allerdings nicht ohne erhellende Einblicke.

Unschuldige Schweizer

Liest man Eizenstats Bericht, so fällt, was Inhalt und Aussage betrifft, der Unterschied zwischen dem deutschen und dem Schweizer Verhandlungsszenario ins Auge. Im Fall der Schweiz hatte Eizenstat in Gestalt der Großbanken ein Gegenüber, das lange Zeit Informationen über jüdische Konteninhaber zurückhielt, ja zum Teil vernichtete. Zudem waren Regierung und Öffentlickeit sich keiner Schuld bewusst, obwohl die Schweiz durch ihre Goldgeschäfte wesentlich die deutsche Rüstungsproduktion finanzierte.

Auf der anderen Seite, der Seite der Opfer, standen Anwaltskanzleien, die die Schwierigkeiten der konkreten Beweisführung dadurch zu kompensieren suchten, dass sie die amerikanische Öffentlichkeit mobilisierten und mit Boykott der Schweizer Banken auf USA-Boden drohten. Über beide Seiten fällt Eizenstat vernichtende Urteile. Er lässt keinen Zweifel daran, dass er den Weg der Sammelklagen, der „class action“, trotz des schließlich erfolgreichen gerichtlichen Vergleichs für verfehlt hält und lieber ein Regierungsabkommen ausgehandelt hätte.

Demgegenüber stellte sich die Ausgangslage im Fall Deutschland für Eizenstat günstiger dar: Die rot-grüne Regierung hatte sich in ihrem Programm 1998 auf eine Stiftung zur Entschädigung der Zwangsarbeiter festgelegt, ein Initiatorenkreis deutscher Unternehmer plante ebenfalls eine Stiftung, und ein Großteil der deutschen Öffentlichkeit verlangte eine schnelle und unbürokratische Art der Entschädigung.

Eizenstat gibt sich in seinem Bericht keinen Illusionen über die Motivation der Stifter hin. Sie wollten Rechtssicherheit vor Klagen und Repressalien auf dem amerikanischen Markt. Im Zentrum steht bei Eizenstat der steinige Weg zu dieser Conditio sine qua non. Die deutschen Unternehmen, so Eizenstat, wollten von der Regierung der amerikanischen Seite alles haben: „Sie beharrten darauf, dass sie eine rein moralische Geste vollführten, zu der sie juristisch nicht verpflichtet waren, und verlangten gleichzeitig hartnäckig einen absolut hieb- und stichfesten Schutz vor künftigen Klagen.“

Eizenstat schildert ebenso offen wie ausführlich das gegenseitige Misstrauen und den späteren offenen Streit um die Verteilung der 10-Milliarden-Summe, der zwischen den osteuropäischen Opferverbänden und denen der jüdischen Seite tobte. Hierbei ist seine Feststellung von besonderem Interesse, dass die deutsche Seite, voran Staatsminister Hombach und auch der Bundeskanzler, zunächst nicht daran dachte, die osteuropäischen Organisationen überhaupt in den Verhandlungsprozess einzubeziehen. Diese Haltung gaben sie erst unter dem Eindruck der vorgelegten Daten und Zahlen auf.

„Freiwillige“ Zahlungen

Die Arbeit von Susanne-Sophie Spiliotis hat vor allem zwei Verdienste. Sie versteht es, die Schwierigkeiten darzulegen, die mit dem Versuch verbunden waren, die amerikanische Regierung zu einer verbindlichen Stellungnahme zu veranlassen, mittels deren zukünftige Klagen gegen deutsche Unternehmen abgewiesen werden konnten. In dieser Schilderung kommen auch die objektiven, in den unterschiedlichen Rechtskulturen begründeten Differenzen zur Sprache. Das zweite Verdienst besteht in einer Art Chronik der Verweigerung, in der Schilderung der zahllosen Winkelzüge, vermittels deren sich ein Großteil der Firmen, die Zwangsarbeiter beschäftigt hatten, vor der Zahlung in den Stiftungstopf zu drücken versuchte. Wobei allerdings Spiliotis die von der Initiative eingeschlagene Strategie, keinen Druck auszuüben und auf strikter „Freiwilligkweit“ zu beharren, nicht in Zweifel zieht.

Kritik muss vor allem an den Aspekten der Arbeit von Spiliotis geübt werden, die mit ihrer ausschließlichen Innenansicht zusammenhängen. Zum Ersten verliert sie kein Wort über die Vorgeschichte der Verhandlungen, über die Gründe, warum sich die Regierung wie fast alle deutschen Unternehmen jahrzehntelang geweigert hatten, die Ansprüche der Zwangsarbeiter anzuerkennen. Zwar wirft sie selbst die Frage auf: „Warum so spät?“, beantwortet sie aber nur mit einigen vieldeutigen Floskeln über die Bedingungen des Kalten Krieges. Die Fakten der Zwangsarbeit selbst tauchen nur kursorisch in den Fußnoten auf.

Zum Zweiten lässt die Autorin die Tätigkeit zivilgesellschaftlicher Akteure und deren Verdienste um die schließlich erreichte Einigung außer Betracht. So erwähnt sie kein einziges Mal die Namen von Lothar Ewers oder von Hans-Jochen Vogel, die sich frühzeitig für die Entschädigung einsetzten.

Zum Dritten wird die Einflussnahme der Medien auf einen beschleunigten Gang der Verhandlungen ignoriert und die Tätigkeit von Initiativen wie den Geschichtswerkstätten nur einmal erwähnt – um ihnen Fehler bei der Aufstellung von Unternehmenslisten, die Zwangsarbeiter beschäftigten, anzukreiden. Dafür wird Manfred Gentz, der Motor der Stiftungsinitiative, wie auf den Ikonen der Orthodoxie stets mit einem Heiligenschein gemalt. Dieses Offiziösentum ist besonders unbegreifich bei einer Autorin, die sich in der Vergangenheit selbst für griechische Opfer der Nazi-Wehrmacht engagiert hat.

Stuart E. Eizenstat: „Unvollkommene Gerechtigkeit“, aus dem Englischen von Helmut Ettinger und Holger Fliessbach, 480 Seiten, C. Bertelsmann, München 2003, 24,90 €ĽSusanne-Sophia Spiliotis: „Verantwortung und Rechtsfrieden. Die Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft“, 288 Seiten, Frankfurt am Main 2003, Fischer Taschenbuch, 13,90 €