Heute hier, morgen dort

AUS BRÜSSEL DANIELA WEINGÄRTNER

Das Europaparlament in Brüssel wird derzeit umgebaut. Die bislang provisorisch untergebrachten Delegierten aus den neuen Beitrittsländern brauchen Arbeitsräume. Nach der Wahl müssen statt 626 Abgeordneten 732 Volksvertreter Platz finden, deshalb werden nun Wände versetzt, Dolmetscherkabinen für die neuen Sprachen eingerichtet und neue Telefonleitungen geschaltet.

Weniger augenfällig ist der Umbau, der sich seit Jahren im Selbstverständnis und der Arbeitsorganisation des Hohen Hauses vollzieht. Seit der ersten Direktwahl 1979 hat das Europaparlament mit jeder Vertragsreform an Einfluss gewonnen – und Vertragsänderungen gab es ja in den letzten Jahren eine ganze Menge.

Die Bedeutung des EP ist so kontinuierlich gewachsen, dass in Brüssel niemand mehr auf die Idee kommt, unsere Arbeit auf die leichte Schulter zu nehmen, sagt die umwelt- und verbraucherpolitische Sprecherin der sozialistischen Fraktion, die Berliner Abgeordnete Dagmar Roth-Behrendt. In den zehn Jahren, die sie nun zwischen Brüssel, Straßburg und Berlin tourt, hat ihre Arbeitsbelastung ständig zugenommen. Leider hat sich das bis zu den Wählern noch nicht herumgesprochen.

Dabei genügt ein Blick in Roth-Behrendts Terminkalender – nationale Politiker und Verbandsvertreter geben sich die Klinke in die Hand. Denn in 80 Prozent der Gesetze, die den Binnenmarkt, Umwelt-, Wirtschafts- Gesundheits- oder Verkehrspolitik betreffen, hat das EU-Parlament inzwischen Mitentscheidungsrecht. Wenn die Abgeordneten höhere Recyclingquoten, längere Garantiezeiten für Elektrogeräte oder geringere Nachweisgrenzen für genveränderte Substanzen durchsetzen, hat das unmittelbare Auswirkungen auf die Hersteller. Deshalb verwenden die viel Zeit und Geld darauf, den Abgeordneten die möglichen nachteiligen Folgen ihrer Entscheidung vor Augen zu führen.

Dass viele Abgeordnete das nicht als logische Folge ihrer gewachsenen Einflussmöglichkeiten sehen, sondern als Einmischung in ihre Unabhängigkeit, ist ein Zeichen dafür, dass das Rollenverständnis unter den Parlamentariern sehr unterschiedlich ist. Das Europaparlament war nach der ersten Direktwahl 1979 ein bunter Haufen, dessen vorrangige Aufgabe darin bestand, den politischen Dialog der Europäer unters Volk zu bringen. Wer überhaupt wählen ging, nutzte die Möglichkeit, um Ärger loszuwerden oder ein Experiment zu wagen. Die Parteien wiederum schickten Altgediente aus der nationalen Politik, Unbequeme oder junge Talente aus genau den gleichen Gründen.

Die meisten europäischen Parteien haben inzwischen erkannt, dass sie Profis nach Europa schicken müssen, wenn sie ihre Interessen dort gut vertreten sehen wollen. In vielen Ländern sind die parteipolitischen Karrieren durchlässig geworden, Brüssel kann eine Stufe auf der Leiter zum Ministerposten in Paris oder Madrid sein, und von dort geht man gern nach Brüssel zurück, um EU-Kommissar zu werden. Für Deutschland gilt das nicht im gleichen Maß. Man macht Karriere in Berlin oder in Brüssel, Umsteigen ist fast ausgeschlossen.

Grüne schicken EU-Anfänger

Immerhin haben die beiden großen Volksparteien für die kommende Wahl die vorderen Listenplätze mit EU-Profis besetzt. Bis Platz 26 gibt es bei den Sozialdemokraten nur einen Neueinsteiger. Auch die CDU schickt – von der Landesliste Baden-Württemberg abgesehen –erfahrene EU-Abgeordnete ins Rennen. Nur die Grünen leisten sich auf den zehn sicheren Plätzen sechs Neulinge. Spitzenkandidatin Rebecca Harms muss in sehr alten Erinnerungen kramen, wenn sie ihre EU-Erfahrung belegen will. 1984 war sie Mitarbeiterin der grünen Abgeordneten Undine von Blottnitz. Angelika Beer – auf Platz fünf der Liste – kommt dem Klischee des „Opa für Europa“ ziemlich nahe. Es ist ein offenes Geheimnis, dass sie nach Brüssel soll, weil sie in Berlin als Parteisprecherin nicht überzeugen konnte.

Ähnlich achselzuckend betrachten auch die Wähler das Parlament. Nicht einmal jeder zweite deutsche Wahlberechtigte machte sich vor fünf Jahren die Mühe, und diesmal könnte die Wahlbeteiligung noch weiter in den Keller rutschen. Die Sympathiewerte des Hohen Hauses sind in Deutschland nach einem Vergleich von Eurobarometer zwischen März und Oktober 2003 von 56 Prozent auf 50 Prozentpunkte gefallen – nach der Neidkampagne von Stern und Bild dürften die Umfrageergebnisse demnächst noch düsterer ausfallen.

Die rechtzeitig zur Wahl lancierte Empörung darüber, dass viele Abgeordnete die Gelder einstreichen, die ihnen laut Satzung zustehen, verstellt den Blick auf eine viel wichtigere Frage: Warum hat es das EU-Parlament in fünf Jahren nicht geschafft, sein Abgeordnetenstatut zu ändern? Antwort: Weil der Rat in dieser Angelegenheit das letzte Wort hat. Für die steuerlichen Aspekte wird nach wie vor Einstimmigkeit verlangt – und so konnte Deutschland mit seinem Veto die ganze Reform blockieren.

Ähnlich verhält es sich mit der viel diskutierten Standortfrage: Der Wanderzirkus zwischen Straßburg und Brüssel kostet die Steuerzahler mehr als 100 Millionen Euro pro Jahr; von der nutzlos versickerten Reisezeit der hoch bezahlten Abgeordneten und ihrer Mitarbeiter ganz zu schweigen. Doch Jacques Chirac hat dafür gesorgt, dass Straßburg als Tagungsort im EU-Vertrag festgeschrieben wird; als Teil eines fein ausbalancierten Interessenausgleichs zwischen den Ländern. Der Rat hat in dieser das Parlament unmittelbar betreffenden Frage das Sagen. Nur er kann dafür sorgen, dass die Parlamentarier künftig mehr Zeit am Schreibtisch als im Zug verbringen, die Franzosen stellen sich aber weiterhin taub.

Aus der Tatsache, dass dem Parlament in eigener Sache oft die Hände gebunden sind, sollte man nicht vorschnell auf das politische Gewicht der Institution im Kräftedreieck Rat-KommissionParlament schließen. Umfangreiche Untersuchungen sind in den letzten Jahren darüber verfasst worden, welche politische Macht den EU-Abgeordneten seit den Vertragsänderungen von Amsterdam und Nizza zugewachsen ist. Der EU-Experte Andreas Maurer vom SWP in Berlin kommt in einer Studie vom April 2004 zu dem Schluss, dass das Europäische Parlament Mitentscheidungsrechte im Bereich der auf die EU übertragenen Politiken geltend machen kann, die mit den Mitwirkungsrechten der Mehrheit westeuropäischer Parlamente durchaus vergleichbar sind, teilweise sogar weit darüber hinausgehen. Auf Deutsch gesagt: Wer dieses Parlament am 13. Juni nicht mitwählt, gibt seine Interessen aus der Hand.

Die Parlamentarier selber ziehen eine gemischte Bilanz dessen, was sie in den letzten fünf Jahren erreicht haben. Viele schwärmen wie der fränkische CSU-Vertreter Joachim Würmeling oder die grüne Osteuropaexpertin Elisabeth Schroedter davon, dass ein engagierter Einzelkämpfer noch immer viel mehr bewegen kann als ein nationaler Abgeordneter. Andere sehen das EU-Parlament zunehmend als Arbeitsplatz, der den gleichen Regeln von Fraktionszwang, Hausmacht und Parteiinteresse unterliegt wie bei den Kollegen auf der nationalen Entscheidungsebene.

Erfolge und Niederlagen

Fast alle Befragten nennen die Tatsache, dass das Europaparlament mit seiner Kritik am Nizza-Vertrag den Verfassungskonvent erzwang, als herausragendes Thema der vergangenen Legislaturperiode. Unterhalb der Verfassungsebene hat die Erfolgsbilanz viele Gesichter. Der Däne Jens-Peter Bonde zum Beispiel ist besonders stolz darauf, dass auf seine Anregung hin das vollständige Telefonbuch der EU-Kommission im Internet verfügbar ist.

Der deutsche Sozialdemokrat Ozan Ceyhun betont den moralischen Druck, den die Abgeordneten in Fragen der Asyl- und Flüchtlingspolitik ausüben konnten, und ihre kritische Haltung zum Datenschutz. Es sei dem Parlament zu verdanken, dass die Freigabe von Passagierdaten für US-Behörden in die öffentliche Kritik geraten sei. Das ist ein Beispiel, dass wir auch dann eine Kontrollfunktion ausüben, wenn wir keine Gesetzgebungskompetenzen haben. Allerdings ist dies auch ein Beispiel für die begrenzte Macht des Parlaments: Denn der Rat hat die Datenübertragung inzwischen gebilligt.

Natürlich gab es auch Niederlagen. Zwei Kandidaten aus den neuen Mitgliedsländern für den Europäischen Rechnungshof wurden vom Plenum für nicht qualifiziert genug befunden. Den Rat beeindruckte das überhaupt nicht. Diemut Theato, die Vorsitzende des Haushaltskontrollausschusses, sprach von einem „unfreundlichen Akt“ und stellte Schwierigkeiten für die künftige Zusammenarbeit mit dem Haushaltskontrollausschuss in Aussicht. Da das Parlament in dieser Personalfrage aber nur beratende Funktion hat, bleiben die Verbalattacken völlig folgenlos.

Die Rolle, die der mächtige Haushaltskontrollausschuss beim Skandal um das Statistikamt Eurostat gespielt hat, sehen die Abgeordneten mit gemischten Gefühlen. Immerhin war Romano Prodis Vorgängerkommission nach einer Serie von Enthüllungen über Missmanagement auf Druck des Ausschusses zurückgetreten. Seitdem klar ist, dass der Generaldirektor von Eurostat schwarze Kassen geführt hat, fordern britische Konservative und die CSU-Abgeordnete Gabriele Stauner auch für die aktuelle Kommission Konsequenzen. Ein Misstrauensantrag gegen die Kommission Prodi scheiterte aber Anfang Mai mit der überwältigenden Mehrheit von 515 zu 88 Stimmen.

Sollte, wie im Verfassungsentwurf geplant, das Parlament künftig das letzte Wort bei der Haushaltsplanung bekommen, würden seine politischen Einflussmöglichkeiten deutlich erweitert. Wer die Hand auf dem Geldsäckel hat, spielt in der Politik immer die entscheidende Rolle. Das wissen aber auch die Regierungschefs. Vor allem Deutschland sträubt sich gegen die Vorstellung, das Europaparlament könnte großzügig die Steuermillionen verteilen, die der deutsche Finanzminister zu Hause mühsam eintreiben muss. Richtig erwachsen wird das Parlament eben erst, wenn es nicht nur die Ausgabenhoheit hat, sondern eigene EU-Steuern festsetzen kann. Dieses Instrument werden sich die Regierungschefs aber nicht so bald aus der Hand nehmen lassen.