Auf der Suche nach dem Ausgang

Selbst im Pentagon wird Kritik an der US-Strategie im Irak laut. Derzeit wird erörtert, wie die Besatzungsmacht sich aus dem Konflikt zurückziehen kann

Der Öffentlichkeit soll das Gefühl gegeben werden, dass ein Ende derBesetzung in Sicht ist

VON ERIC CHAUVISTRÉ

„Wir sind nicht dabei zu verlieren.“ Vorsichtshalber hängte General John Abizaid, Befehlshaber des auch für den Irak zuständigen „Central Command“, noch das Wort „militärisch“ an. Ende April, dem mit 140 Toten verlustreichsten Monat für die US-Besatzungstruppen, sah sich einer der mächtigsten Militärs der Vereinigten Staaten zu dieser banalen Feststellung genötigt. Nicht erst seit die Folterpraktiken der Besatzungsmacht auch durch Fotos belegt sind, macht sich innerhalb der US-Streitkräfte wachsender Unmut über das Vorgehen im Irak breit.

Dabei könnte die militärische Dominanz der USA im Irak eindeutiger nicht sein. Nach Schätzungen der Brookings Institution in Washington sind derzeit etwa 5.000 bewaffnete Aufständische im Irak aktiv. Selbst für den unwahrscheinlichen Fall, dass die Zahl des Washingtoner Thinktanks um den Faktor zehn erhöht werden müsste, wäre dies immer noch wenig im Kräftevergleich zu den ungleich besser ausgerüsteten 135.000 US-Soldaten, 25.000 Verbündeten und mehreren tausend bewaffneten kommerziellen Militärdiensten.

„Natürlich könnten die USA die Iraker schlagen“, stellt Anthony Cordesman vom konservativen Washingtoner Thinktank Center for Strategic and International Studies so auch klar. Doch jede militärische Lösung führe zu neuer Aufregung um exzessive Gewalt, zivile Opfer und Kollateralschäden. „Die irakischen Aufständischen brauchen nicht zu siegen“, beschreibt der ehemalige Pentagon-Mitarbeiter das Grundproblem der US-Militärs.

Auf Dauer, darauf verweist der Konfliktforscher Andrew Mack von der University of British Columbia, können große Militärmächte die asymmetrischen Interventionskriege nicht gewinnen, selbst wenn sie wie die USA militärisch unschlagbar sind (siehe Interview).

„Asymmetrisch“ seien diese Kriege, wie sie einst in Vietnam oder Algerien und heute im Irak geführt würden, nicht vorrangig durch die unterschiedliche Ausrüstung, sondern schon durch die völlig unterschiedlichen Ausgangspositionen der am Krieg Beteiligten. Für eine Armee oder bewaffnete Gruppe, die den Krieg im eigenen Land führt und nicht abziehen kann, habe eine Niederlage gravierende Folgen, der Kriegsverlauf unmittelbare Konsequenzen für die Bevölkerung. Für die Gesellschaft einer militärischen Interventionsmacht hingegen, die ihre Truppen mehrere tausend Kilometer vom eigenen Land entfernt einsetzt, sei der Erfolg im Krieg zwar möglicherweise von großem Interesse, aber eben nicht von elementarer Bedeutung.

Je länger die Besetzung dauert, desto schwieriger dürfte es deshalb für die US-Regierung werden, deren enorme Kosten zu rechtfertigen: eine stetig wachsende Zahl von Opfern unter US-Soldaten – bis zum vergangenen Wochenende nach Pentagon-Angaben 777 Tote und 2.662 Schwerverletzte –, vier Milliarden US-Dollar Besatzungskosten pro Monat und ein kaum abschätzbarer Ansehensverlust der USA im Nahen und Mittleren Osten.

Weder Franzosen noch Amerikaner sind aus Vietnam abgezogen, weil ihre militärischen Mittel vernichtet worden wären. Die Besatzer zogen ab, weil der örtliche Widerstand ihren politischen Willen zur Fortsetzung des Krieges zerstörte. Auch im Irak, meint John Pike, Direktor des Washingtoner Informationsdienstes Globalsecurity.org, „sehen wir eine Taktik, die auf die politische Verwundbarkeit abzielt“. Die Aufständischen versuchten, „den Willen der Koalition zu brechen“.

Prominente Kriegsbefürworter fühlen sich deshalb schon zu Durchhalteparolen und Einheitsappellen genötigt. Der demokratische Senator Joseph Lieberman, Vizepräsidentenkandidat Al Gores bei der letzten Wahl, ruft „zu einem Waffenstillstand an der Heimatfront auf“. Dies werde den USA helfen, „auf dem Schlachtfeld einen Sieg zu erringen“.

Für Robert Keagan, der den Irakkrieg mit herbeischrieb, besteht die größte Gefahr darin, dass die politische Führung der USA Zweifel am eingeschlagenen Kurs hegen und über eine Exit-Strategie nachdenken könnte: „In Vietnam ist die Unterstützung nicht durch die Verluste zurückgegangen“, so der neokonservative Intellektuelle, „sondern durch das Gefühl der Amerikaner, dass die Regierung nicht mehr auf einen Sieg eingeschworen war und einen Ausweg suchte.“

Noch sucht die Bush-Regierung ihr Heil in der Eskalation. Die Anzahl der Truppen wurde durch eine Verlängerung der Dienstzeiten im Irak bereits erhöht. Gestern gab es bislang unbestätigte Berichte aus Südkorea, wonach 4.000 der insgesamt 37.000 dort stationierten US-Soldaten in den Irak verlegt werden sollen. Berater aus dem Umfeld der Bush-Regierung fordern gar eine vorübergehende Aufstockung um weitere 30.000 Soldaten – um so, wie sie meinen, schnell mit der derzeitigen Krise fertig zu werden.

Andere Beobachter halten eine Aufstockung in solchen Dimensionen längst nicht für ausreichend. Sie verweisen darauf, dass die Briten in den schlimmsten Zeiten des Nordirland-Konflikts mit 20 Soldaten je 1.000 Einwohnern präsent waren. Umgerechnet auf die Bevölkerung des Irak würde das eine Besatzungstruppe von einer halben Million Soldaten bedeuten, fast so viel wie die US-Präsenz in Indochina auf dem Höhepunkt des Vietnamkriegs 1968.

Es ist ein Zeichen für die Hilflosigkeit der militärisch-politischen Elite in den USA, dass neben einer drastischen Aufstockung auch das genaue Gegenteil als militärische Lösung erwogen wird: die Reduzierung auf eine bis auf 20.000 Soldaten reduzierte Spezialtruppe, die sich möglichst wenig der irakischen Öffentlichkeit zeigt. Nach diesem „afghanischen Modell“ würde die Herrschaft im Irak weitgehend indirekt ausgeübt: durch Arrangements mit dem alten Militär- und Geheimdienstapparat einerseits, und mit Privatarmeen lokaler Herrscher andererseits.

Rumsfeld, der auf schnelle, billige Kriege setzt und keine Streitmacht für Massenaufmärsche unterhalten will, muss solch ein Szenario sympathisch sein. Nach einem Bericht der Londoner Times, der sich auf britische Regierungsquellen beruft, basteln die innenpolitisch angeschlagenen Oberbefehlshaber George Bush und Tony Blair tatsächlich an einer „exit strategy“ nach ähnlichem Muster. Der Öffentlichkeit in den USA und Großbritannien solle damit das Gefühl gegeben werden, so das konservative Blatt, dass ein Ausstiegsszenario erarbeitet und ein Ende der Besetzung in Sicht ist.

Auf lokaler Ebene wird solch ein partieller Rückzug von den US-Streitkräften längst erprobt. In Falludscha haben die dortigen Befehlshaber der US-Marineinfanterie einen alten Kommandeur von Saddam Husseins Republikanischen Garden reaktiviert. Und im sunnitisch dominierten Süden sollen Kommandeure der US-Armee schon örtliche Scheichs zu Beiträgen zu einer irakischen Streitmacht aufgefordert haben, was in den meisten Fällen wohl eher der Ermunterung zur Aufstellung von Privatarmeen gleichkommt.

Paul Wolfowitz, Stellvertreter Donald Rumsfelds im Pentagon und treibende Kraft hinter der Irakinvasion, hat Spekulationen über Szenarien nach dem „afghanischen Modell“ bislang noch zurückgewiesen. Würden sie offiziell verfolgt, wäre dies in der Tat das Ende der ideologischen Mission der Bush-Regierung. Dann ginge es offenkundig nur noch um eine militärische Stabilisierung um jeden Preis, zur Not auch durch ein militärisches Outsourcing an irakische Warlords, denen man im Gegenzug wohl Spielraum in ihrem jeweiligen Herrschaftsgebiet einräumen müsste. Ein für die ideologischen Hardliner um Wolfowitz und Vizepräsident Dick Cheney kaum zu verkraftender politischer Schwenk. Das Ziel der kriegerischen Demokratisierung der Region wäre aufgegeben.