Den Penis köpfen

Junge Menschen, leeres Leben: Die deutschsprachige Erstaufführung von Edna Mazyas „Darksite“ fand im Brauhauskeller des Bremer Theaters statt

„Was kannst du überhaupt, außer den ganzen Tag wie ein hirnloses Karnickel ficken ... und kuck bitte nicht wieder wie ein missbrauchtes Kind“. Der Satz mit Karnickel ist ein Satz mit X. Was Arges liegt im Unbekannten und will bestimmt werden. „Ich spreche von Dingen, die sich hinter den Dingen verbergen“, wird erklärend nachgeschoben. So verweist Edna Mazya auf das Herz ihres Stückes Darksite – und auf die Ästhetik, dieses Herz freizulegen: die gute alte Enthüllungsdramaturgie.

Mazya beherrscht sie – wie alle Tricks des Genres. Als Tochter österreichischer Einwanderer 1949 in Tel Aviv geboren, gilt sie heute als eine von Israels wichtigsten Drehbuch- und Theaterautorinnen. Immer steht eine emotionale Ausnahmesituation im Mittelpunkt ihrer Werke, in denen der Hauptfigur das X ihrer Lebensgleichung entschlüsselt wird.

Aber wer ist die Hauptfigur bei der deutschsprachigen Darksite-Erstaufführung am Bremer Theater? Und was ist das X?

Angenommen, es ginge darum, das „hirnlose“ Karnickel-Verhalten der beschimpften Didi tiefenscharf zu erhellen. Dann muss geklärt werden, warum sie sich derartig demütigen lässt? Was liegt ihr an einem Freund von monströser Schnöseligkeit? Ist ihr ätzend zynischer Ilai doch so mit seinen Neurosen beschäftigt, dass er kaum etwas anderes wahrnimmt. Didi muss entweder masochistisch oder nymphomanisch veranlagt sein, um all das nicht nur zu ertragen, sondern dabei – dauergeil – ihren Körper immer und immer wieder zu entblättern. Und der ist hübsch. Das lenkt schon mal ab von all den Fragen nach dem X.

Enthüllungsdramatik bedingt nämlich erst einmal eine Ablenkungstaktik. Mazya setzt auf detailsicher komponierte Episoden, die die scheinbare Banalität einer dreieckigen Beziehungsgeschichte behaupten: als narrendes Geplänkel. Man spürt die darin liegende vorwärts treibende Dynamik, die zielsicher, wie in jeder Kriminalgeschichte, auf einen geschickten, also unerwarteten „coup de théâtre“ zuläuft.

Bis dahin geben Didi, Ilai und Max das trio infernale, spielen Horror-B-Movie-Szenen, chatten mit Kinderfickern und verwickeln den Pizzaboten in ein Mordszenario, um sich an seiner Angst zu weiden. Aber Pizzaboten-Darsteller Christoph Finger zeigt sogleich, dass es darum gar nicht geht. Anstatt von Panik in die Ecke getrieben zu sein, muss er in die grimassierende Offensive gehen, der schuldlose Dümmling sein, wie wir ihn auch aus dem Splattercomedy-Kino kennen. Alles nur ein Gag.

Wie auch die folgenden Anspielungen. Das Wort „Holocaust“ fällt. Didis Mutter hat Probleme mit dem Leben nach der Menopause. Von kaputten Beziehungen geht die Rede. Von kaputten Ehen sowieso. Dazwischen: nervtötende Frotzeleien, Drogenrausch, ein Sehnsuchtsaufschwung: „Nach New York!“ Und Witzeleien. „Was sagt ein Maulwurf, wenn er sich durch Belgien gräbt? – Kinder, Kinder, Kinder.“

Fehlen nur noch die Eltern. Hinreißend tragikomisch dabei der TV-Auftritt von Katharina Thalbach als Mama: eine verlassene Gattin, die mit schäbiger Wut ihre junge Nachfolgerin an der Seite des Ex-Gatten präsentiert. Da kriegt dann der Sohn „einen Ständer“. Der andere muss kotzen. Didi fürchtet, „wahnsinnig“ zu werden.

Sahen wir sie nicht eben noch mit ihrer ertränkten Katze? Wurde die nicht nach ihrem Papa benannt? Und die schleckte doch – wie ihr Papa? – an ihr herum. Anspielungen ohne Antworten. Der Spannungsbogen muss halten.

Also zurück zu den Jungs, die in ihrer Kindheit elternlos aufwuchsen. Aber das wird nicht näher beleuchtet. Das Stück spielt angeblich in Israel. Aber die nationalen Ideale von gestern und die verheerenden Konflikte von heute kommen nicht vor. Die Dimension von Ort und Zeit ist aufgehoben. Zusehends entdecken wir Individuen ohne gesellschaftliche oder kulturelle Wurzeln. Auch das wird nicht näher beleuchtet.

Stattdessen lädt Didi einen Pädophilen ins Haus, spielt Missbrauchsszenen vor, die sie einst von ihrem Vater vor den Augen der Mutter zu erdulden hatte. Das Zynische aber ist: Auch das wird nicht näher beleuchtet. Mazya feiert die Mechanik der Enthüllungsdramaturgie. All der Psychologismus: nur Show für einen möglichst fetten Betroffenheitskitzel zum Finale. Da soll dann gleich das böse Organ des Kinderfickers geköpft werden. Rache ist Peniswurst.

Warum dieses „Walking on the darksite of life“ jetzt und hier? Zeitlos gültig, immer wichtig? Tobias Sosinka gibt bei seinem Bremer Regie-Debüt keine Antwort. Seine Inszenierung ist eine mit X und Y und weiteren Unbekannten. Dabei aber ordentlich unterhaltsam: Missbrauchs-Thematik als Alibi für lockeres Poptheater – reich an Rock‘n‘Roll und Filmzitaten und gekonnt überdrehter Darstellung einer hysterischen Seelenlosigkeit. fis

Nächste Termine: 19., 21., 26., 29. Mai