Makellose Albtraum-Höhle

Was als Konzept noch gut klingt, muss als fertiger Film nicht unbedingt besser sein: Die Kunst-Werke zeigen Andy Warhols „Screen Tests“ als einen Circus maximus der amphetaminblassen Sixties-Ikonen

VON HARALD FRICKE

Das New Yorker Whitney Museum hätte seine Filme gern schon 1983 gesammelt, restauriert und dann gezeigt. Richtig überzeugend fand Warhol die Idee nicht, lieber hätte er die eigene Produktpalette selbst kommerziell verwertet. Immerhin war vor kurzer Zeit erst mit MTV ein Fernsehsender gestartet, der Videoclips zeigte, da hätte vielleicht auch sein Film mit Velvet Underground gepasst, der ja nonstop aus Rockmusik bestand. Nur beim Rest war sich Warhol nicht sicher: Zwar ließen sich die Filme immer ganz gut beschreiben; sobald man sie aber ansah, fanden die Leute „Sleep“ oder „Eat“ meistens ziemlich langweilig, wie er in seinen Tagebüchern notierte. Wenig später war die Sache mit dem Museum jedenfalls vergessen, aus dem Whitney-Deal wurde nichts.

Statt dessen hat das MoMA die Sammlung nach seinem Tod 1987 bekommen. Mit weiteren Ankäufen beläuft sich das Archiv mittlerweile auf 4.000 originalen Filmrollen und Druckmaterial. Was aber stellt man mit einem Fundus an, der für teures Geld auf DVD umkopiert wurde, außer einer verschwindend geringen Art-Community jedoch nicht wirklich das große Publikum ins Museum zieht? Man schickt es nach Berlin, denn dort ist das MoMA der Star. Und weil bei einem dermaßen massenverzückenden Event alle Institutionen mitmüssen, haben sich nun auch die Kunst-Werke mit „Andy Warhol: Motion Pictures“ eine extra Portion MoMA abgeholt. Dass zeitgleich eine Reihe mit historischen Filmen aus der MoMA-Sammlung im Arsenal laufen, scheint nicht weiter zu stören. Denn in Berlin wird stets nach der Devise gehandelt: Getrennt planen – gemeinsam jammern, wenn keiner kommt.

Andererseits sind Warhols Produktionen aus der Zeit zwischen 1963 und 1966 tatsächlich nur sehr begrenzt fürs Kino tauglich. Manche der Filme waren als dekorative Ambient-Movies für Ausstellungen gedacht, so wie man heute auf der documenta kurz mal bei einer zweieinhalbstündigen Dokumentation über Psychoanalyse in Litauen reinschaut und schulterzuckend weiterzieht. Acht Stunden „Empire“, in einer einzigen starren Kameraeinstellung auf das gegenüberliegende Hochhausgebäude, das schaut sich natürlich kein Mensch auf Dauer an. Oder um mit Warhol zu sprechen: Klingt als Konzept gut, muss man als fertig gedrehten Film aber auch nicht haben. Dass er es trotzdem gemacht hat, sagt einiges über seine Philosophie – von A nach B und wieder zurück.

Mit solchen Binsenweisheiten wollte sich Mary Lea Brandy, die am MoMA die Filmabteilung betreut und auch für die Berliner Präsentation zuständig ist, allerdings nicht zufrieden geben. Wenn schon Warhol, dann bitte mit Anspruch. Deshalb hat die Ausstellung eine theoretische Klammer, bei der viel davon die Rede ist, dass die Filme ein Schlüssel zum Verständnis des Gesamtwerks sein könnten.

Weil sie wenig Handlung und kaum Bewegungen zeigen, dafür aber hervorragend ausgeleuchtet sind, liegt für Brandy der Verdacht nahe, Warhol habe mit dieser Art lebender Tableaus ein Pendant seiner Siebdrucke schaffen wollen. Wozu hätte er seine Entourage sonst auf zig Stunden „Screen Tests“ in der Factory aufnehmen sollen? Außerdem sieht man die Drucke von Marilyn Monroe oder Jackie Kennedy auch immer nur in Serie, da muss es doch eine Beziehung zum Film geben: „Sind die Screen Tests also gefilmte Versionen von Gemälden?“, fragt die Fachfrau des MoMA im Begleitblatt zur Ausstellung und liefert prompt die Antwort mit: „Ein Porträt kann ebenso viel verbergen, wie es verrät, die Absichten des Modells und des Porträtisten können übereinstimmen oder nicht.“ Ach ja, und eine Behauptung kann zutreffen oder auch nicht.

Wenn man die Haupthalle der Kunst-Werke betritt, sieht man von dem Gedanken nur wenig, dafür sehr viel technischen Aufwand. Ein Dutzend großformatige Leinwände wurden in schmalem Abstand an die Wände gehängt, so dass einen unentwegt die Projektionen der Warhol’schen Celebrities und Zufallsbekanntschaften larger than life anblicken. Ein Circus maximus der amphetaminblassen Sixties-Ikonen, mit hart in Schwarzweiß kontrastierenden Gesichtszügen: maskenhaft, wie Fetische aus dem Nachtleben. Für ein paar Momente hat man mächtigen Spaß daran, weil die coole Dekadenz, die sich in den Mienen einer lasziv zähneputzenden Baby „Jane“ Holzer oder in Dennis Hoppers drogenverstrahltem Lächeln spiegelt, von der Vielzahl der Screens noch verstärkt wird. Für Platon wäre es die perfekte Albtraum-Höhle: reine Oberfläche, das kaputteste Glück allen irdischen Treibens. Ein Schein von Schönheit, den keine Fashion-Gala und kein Grammy-Award so makellos inszenieren könnte.

Doch dann erinnert man sich an die kunsttheoretischen Absichten und ist sehr enttäuscht. Die gelangweilten Möchtegern-Stars, die einen mit ihrer stilisierten Monotonie beinahe in einen Rausch aus Tristesse und Ennui versetzt hätten, sind bloß der Belag für das Trockenbrot der Ikonologie. Gewiss, wenn man genau hinschaut, gibt es Ähnlichkeiten zwischen dem feisten Henry Geldzahler, der an seiner Zigarre kaut, und dem Porträt, das Albrecht Dürer 1526 von Hieronymus Holzschuher angefertigt hat; und auch Jan van Eycks Bildnis des dünnhäutigen Giovanni Arnolfini, das ebenfalls in der Gemäldegalerie am Kulturforum hängt, würde in Warhols Boheme-Kabinett passen.

Was aber soll diese Analogie quer durch die Epochen vermitteln, wo man weiß, dass sich heute fast jeder Maler seine Vorlagen im Kino sucht? Warum über das mediale Crossover staunen, nur weil es der Logik der Abbildbarkeit entspricht? Hätte Brandy etwas länger an ihrem Gedanken gearbeitet, wäre ihr vermutlich nicht entgangen, dass schon die frühe Fotografie sich bei der Porträtmalerei bedient hatte, um ab Mitte des 19. Jahrhunderts massenhaft und zugleich individuell Bilder für den Privatgebrauch zu erzeugen.

Vielleicht hätte sie sich auch nur mit Warhols Beziehung zu den aufgezeichneten Menschen beschäftigen müssen. Dann wäre ihr aufgefallen, dass es ihm nicht um die Frage des Transfers von Malerei in Film ging, sondern um das soziale Zusammenspiel einer losen Gruppe von Dropouts, die sich nur durch die strenge, quasidokumentarische Form fixieren ließ. Künstler, Stricher, Junkies: Wie extravagant und diffus die Lebensentwürfe seiner Protagonisten auch sein mochten, vor Warhol waren alle gleich. Das zeigen seine Screen Tests mit spielerischer Leichtigkeit; darüber kann man sogar noch nachdenken, wenn man die „Motion Pictures Show“ längst verlassen hat.

Bis 8. 8., Di.–So., 12–18 Uhr, Kunst-Werke, Auguststraße 69, Mitte