„Leipzig ist die Visitenkarte für ganz Deutschland“

Die Begeisterung für die Olympiabewerbung schlägt nicht in Wut und Tränen um. Bürger und Stadtpolitiker planen schon für das nächste große Ziel

LEIPZIG taz ■ Kaum ist der lapidare Satz ausgesprochen, der die Leipziger Olympiaträume beendete, da beginnt sich der überfüllte Platz an der Nikolaikirche zu leeren. Die Trostworte von Oberbürgermeister Wolfgang Tiefensee (SPD) bekommen nur noch schwachen Beifall. Das sei zwar kurz und schmerzlos gegangen, aber „irgendwie Scheiße“, entfährt es Moderator Roman Knoblauch auf der MDR-Bühne. Eine letzte Traube blauer Luftballons steigt noch in den ungerechten Himmel, bevor auch ihnen die Luft ausgeht.

„Das versteht doch kein Schwein!“, macht sich ein älterer Leipziger Luft. „Alles Lug und Trug.“ Die Reaktion des Mannes fällt ein bisschen heraus aus dem Anstand, mit dem die Leipziger die Bewerbungsniederlage trugen. Die unbestreitbare Begeisterung, die die Olympiabewerbung geprägt hatte, schlägt nicht um in Tränen oder verbissenen Zorn.

Ist das ein Trostbier, das die Herren dort trinken? „Nein, wir haben immer Durst!“, kommt die launige Antwort und: Mit Sport habe die Auswahl der Olympiastädte ohnehin wenig zu tun.

Der Stimmung auf dem Platz ist gedrückt, aber niedergeschlagen sind die Leipziger nicht: Man habe sich mal wieder richtig für etwas begeistern können in einer Zeit, die bei nüchternem Kalkül eher deprimiert, erklärt jemand. Auch der Leipziger Universitätsrektor Franz Häuser ist auf den Platz gekommen. „Dann freuen wir uns eben auf die nächste Bewerbung – oder auf die Eliteuniversität!“ Zur nächsten Bewerbung 2016 hatte ja Jacques Rogge die Leipziger ausdrücklich ermuntert.

Drei Studentinnen haben die Absage für Leipzig wohl geahnt und sind nicht so tief erschüttert. Aber die Bewerbung hat die Zugereisten auf seltsame Weise zu Leipzigern gemacht. Wie stark Oberbürgermeister Wolfgang Tiefensee zur Symbolfigur dieser Olympiabewerbung geworden ist, zeigte der Beifall, mit dem er kurz vor 13.30 Uhr empfangen wurde. Da fällt Ministerpräsident Georg Milbradt deutlich ab, und der so genannten Ostminister Manfred Stolpe bekam gar Buhrufe. Tiefensee demonstriert wenige Minuten später Anstand und gratuliert den fünf erfolgreichen Kandidatenstädten, die alle viel größer als Leipzig sind. Den Leipzigern vermittelt er noch einmal das Gefühl des tapferen Davids, der „großartig gekämpft“ hat. Dazu gibt es Streicheleinheiten. Wie wunderbar doch diese Stadt mit ihren Bürgern sei. Und Appelle an das Stadtkollektiv. Wie man doch im Guten und weniger Guten zusammenstehe und vor keiner Herausforderung zurückschrecke.

Beim Zusammenstehen steht auch Ministerpräsident Milbradt nicht zurück. „Das hätte uns vor einem Jahr noch keiner zugetraut!“ Man könne halt nicht nur siegen in einem starken Feld. Es gebe aber schon einen Sieger: den deutschen Sport. Deutschland überhaupt. „Leipzig ist Deutschland – heute schaut die Welt auf uns!“ verstieg sich zuvor der Moderator. „Leipzig ist die Visitenkarte für ganz Deutschland“, steuerte Stolpe später bei.

Vor der Verkündung des traurigen Ergebnisses hielt sich hartnäckig eine Das-Wunder-von-Bern-Stimmung. Radsport-Olympiasieger Jens Lehmann brachte die Originalfackel von München 1972 als letzter Läufer einer Stafette über 91.000 Kilometer pünktlich auf die Bühne. Das Leipziger Porsche-Werk nutzte die Gunst der Stunde zu Werbezwecken und stellt einen Stern dieser praktischen Kleinwagen mit Olympiafahne um den Augustusplatz. Betriebe erschienen komplett mit extra angefertigten T-Shirts. Ebenso Schulklassen, die sich von Olympia einen Aufschwung für den absteigenden Leipziger Fußball erhoffen. Das Meer von Blau erinnerte ein wenig an die Pioniertreffen und FDJ-Aufmärsche von einst. „One family“ steht aber Neudeutsch auf den Fahnen. Es half alles nichts. Auf den Heimwegen gab es gestern nur ein Thema. An den Skandalen um die Leipziger Olympia-GmbH habe es wohl kaum gelegen.

Der Konservatismus des IOC verärgert die Menschen auf dem Marktplatz. Angeblich wollte es doch neue Wege für Olympia gehen. Weniger hätte dann mehr sein sollen, „und wir sind doch die Billiganbieter“, bemerkte eine Leipzigerin im Discountbewusstsein. Bedeutungsschweres Nicken allerdings auch, wenn die Rede auf erspart gebliebene finanzielle Risiken und Nebenwirkungen kam.

Anders als vor Jahren in Berlin, hat die Leipziger Olympiabewerbung die Stadt nicht in enthusiastische Befürworter und verbissene Gegner gespalten. Erst am Wochenende hatte es in Leipzig eine Gegendemo von Olympiakritikern gegeben. Die erste. Und wohl auch die letzte.

MICHAEL BARTSCH