Mein Block

Le Corbusier mochte es streng, Ingeburg Krause mag es gemütlich. Seit 1958 lebt sie in seinem Haus am Olympiastadion und ist Zeuge geworden, wie aus der Wohnmaschine ein altes Hochhaus wurde

VON KIRSTEN KÜPPERS

Ingeburg Krause hatte es gut. Das Gute war die neue Wohnung. Sie war billig und hatte drei Zimmer, – sozialer Wohnungsbau im Westen der Stadt. Ingeburg Krause war schwanger, außerdem hatte sie einen Mann, eine kleine Tochter und kein Geld. Die Wohnung war das Beste, was ihr passieren konnte. Es war ein heißer Tag im Sommer 1958, Ingeburg Krause trug ein kurzes Baby-Doll-Kleid und zog in den 13. Stock. Es gab Freunde, die neidisch waren auf ihr Glück.

Das Haus, in dem die Wohnung lag, war gerade fertig geworden. Eine hohe, bunte Betonschachtel neben dem Berliner Olympiagelände. Entworfen von dem französischen Architekten Le Corbusier. Corbusier hatte etwas Besonderes mit dem Gebäude vorgehabt. Er wollte ein „ideales Arbeiterhaus“ konstruieren, das Projekt hieß „Wohnmaschine“. Bevor Corbusier anfing, die Pläne zu zeichnen, hat er sich in amerikanische Theorien der Arbeitsorganisation eingearbeitet, er hat menschliche Bewegungsabläufe studiert, er hat ausgemessen, wie viel Platz einzelne Arbeitsprozesse in der Küche brauchen. Dann hat Corbusier in Berlin das Haus gebaut. Es sollte wie eine vertikale Gartenstadt funktionieren, mit Fluren als Verbindungsstraßen. Die Wohnungen sollten hell und luftig sein, gleichzeitig wollte Corbusier Platz sparen und alles sollte billig bleiben. Er war ein strenger Mann. Er hat Absichten verfolgt und es kann auch sein, dass er die Menschen erziehen wollte. Die Mieter seines Berliner Hauses sollten ideale Bedingungen vorfinden, um zusammen ein gutes und richtiges Leben zu führen.

Ingeburg Krause zog in eine moderne Wohnung. Das Haus war schön, eine sozialreformerische Kommune war es nicht. Das Revolutionäre hat im Corbusier-Gebäude nie richtig funktioniert. Die gemeinsame Waschküche, die Post, die Arztpraxen, die Boutique, der Milchladen, die Bank haben über die Jahre geschlossen. Das sich auf den Fluren versammelnde Kollektiv unterlag dem Individuum in seiner Wohnung. Es kam auf Dauer nicht an gegen Mieter, die die Luftigkeit ihrer Wohnzimmer mit schweren Eichenschränken und Velourstapeten stabilisierten, die ihre Milch lieber als Sonderangebot im Supermarkt kauften oder Kleider aus dem Versandhauskatalog bestellten, gegen Menschen, die keine Gemeinschaft wollten.

Ingeburg Krause ist jetzt eine alte Frau, die in einem alten Hochhaus wohnt. Wenn man 77 Jahre alt ist, dann möchte man die Schwalbennester am Balkon behalten, auch wenn der Denkmalschutz findet, sie stören die Fassade. Wenn man 77 ist, dann sind auch große Panoramafenster nicht schlecht. Jeden Morgen kann man aus dem einen Zimmer sehen, wie die Sonne über den Alexanderplatz aufgeht, und nachts, wenn man nicht schlafen kann, weil das künstliche Hüftgelenk drückt, schiebt man sich im Dunklen auf die Couch und guckt auf die Lichter von Spandau – eine Sicherheit, die bleibt, wenn sonst alles geht. Ingeburg Krause ist allein. Der Mann ist weg, die Kinder stecken in eigenen Lebensgeschichten. Die Wohnung ist an Ingeburg Krause hängen geblieben, Ingeburg Krause hängt an der Wohnung. „Ist es nicht herrlich hier?“, fragt sie.

Sie guckt nicht auf den blätternden Putz am Balkonfenster, sie guckt auf die Schwalben. Der Kinderspielplatz hinter dem Haus liegt leer da, aber man kann ja nichts dagegen machen, dass die Deutschen keine Kinder mehr kriegen, sagt Frau Krause. Der Zeitungskiosk in der Eingangshalle, das Neonlicht und die langen, stillen Flure erinnern viele Besucher an ein Krankenhaus. Ingeburg Krause läuft über den Teppich in ihren Zimmern, sie guckt im Osten auf den Fernsehturm, im Westen auf das Spandauer Einkaufszentrum, die Sonne scheint ihr ins Gesicht, sie ruft: „Ist das nicht herrlich?“

So ist Frau Krause. Andere Mieter haben sich beschwert. Von Anfang an. Über die kurzen Badewannen. Über die winzigen Küchen, die nur über eine Durchreiche ins Wohnzimmer Licht bekommen. Über das Farbkonzept, das Corbusier vorgeschrieben hat, und das man nicht überstreichen darf, auch wenn das helle Blau oder dunkle Rot nicht zu den Überzügen der Balkonmöbel passt. Über Fensterscheiben, die man nicht putzen kann, weil sie zu hoch und unerreichbar liegen.

Dabei ist es nicht wichtig, ob Fenster schmutzig sind, findet Ingeburg Krause. Sie denkt an das Schöne, das es gegeben hat im Haus. Eine Ablenkung davon, dass der eigene Mann zu viel Zeit mit seiner Sekretärin verbringt, dass er immer jüngere Freundinnen hat. Nach einer Weile stellten die Krauses Bücherregale auf, um aus einem Schlafzimmer zwei Schlafzimmer zu machen.

Ein Eheleben, das nicht mehr wehtut. Ingeburg Krause pfeift leise und holt den Kuchen von der schmalen Küchenanrichte. Die Dinge ändern sich. Aus Kindern werden Erwachsene. Nachbarn sind gestorben, neue Mieter eingezogen: Architekten, Zahnärzte, ein schwules Paar. Manche versuchen, den Originalzustand der Wohnungen wieder herzustellen, lösen Raufasertapeten von den Wänden, treiben Corbusiermöbelstücke auf, rupfen die Kunstfaserteppiche ab und legen den Linoleumbelag frei. Es ist das Ambiente der klassischen Moderne, das sie für ihr Zuhause wollen. Nach der Renovierung sitzen sie dann in ihren kahlen Zimmern.

Ingeburg Krause sitzt auf der Couch und kaut Möhrenkuchen. „Man muss sich mit seinen Möbeln eben so einrichten, dass man nicht unglücklich wird.“ Sie guckt auf ihre Puppensammlung im Regal, ins Treppengeländer hat sie Marionetten gehängt. Ein Rest Gemütlichkeit, der hilft, wenn man 77 Jahre alt ist und in einer Wohnmaschine wohnt. Wer nachher rausgeht aus dem Haus und draußen auf dem asphaltierten Parkplatz steht, kann an der Fassade hochgucken. Oben rechts sieht man Frau Krause. Oben rechts, ein winkender Punkt.