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: Zwischen Tiflis, Rom und Bagdad: Nikakoi setzt in „Shentimental“ leichthändig auf eine Vermischung der Stile

Nikakoi bedeutet „niemand“ auf Russisch

In Berlin hat sich stets der Wille zur fest ummauerten Nische durchgesetzt. Während in den Achtzigerjahren die Übungskeller-Gitarren-Fraktion nicht besonders gut mit den HipHoppern konnte, haben sich jetzt eben Soundbastler, Lounge-Löwen und der Techno-Mittelstand nicht viel zu sagen. Alle wurschteln sich irgendwie durch – und was die anderen machen, erfährt man zur Not auch aus de:bug oder Spex. Das ist für die kulturelle Gemengelage einer so genannten Metropole ein ziemlich dürftiges Selbstverständnis.

Beim WMF dagegen weiß man allmählich nicht mehr so genau, wer da über welchen Tellerrand guckt. Der Club im Café Moskau nimmt mit, was sich von linken Stadtkritikkongressen bis Gay-Nightlife, Jazzanova-Entertainment und trashigem Kokser-Electro anbietet. Auf dem hauseigenen Label wiederum veröffentlicht Kotai seinen Techno-Punk direkt neben der eklektizistischen Programmierermusik von Nikakoi. So bewahrt man sich die Option auf Veränderung und auf neue Märkte.

Der gebürtige Georgier Nika Machaidze ist dabei selbst eine Ich-AG, die sich an den verschiedenen Fronten der Kulturarbeit ein Zubrot verdient. Er komponiert fürs Theater, macht Soundtracks für Modenschauen und hatte mit der Regisseurin Tusia Beridze 2002 einen Kurzfilm in Oberhausen am Start, bei dem die nachtflackernden Bilder von Boulevards und Hochhäusern gut zum Downbeat passten. Entsprechend weit gestreut waren auch die Tracks auf Nikakois WMF-Debüt „sestrichka“ im März letzten Jahres.

Diese Liebe zur Heterotopie hat sich auf „Shentimental“ noch verstärkt. Wer bislang bei Fusion nur an Jazzrock oder obskure japanische Zeichentrickfiguren dachte, der bekommt hier auf 17 Songs vorgeführt, wie es sich anhört, wenn Drum-’n’-Bass-Sprengsel mit elegischer Kammermusik und dezentes Soundknistern mit osteuropäischen Volksweisen gekoppelt werden: Meistens angenehm beiläufig, manchmal etwas zu kunstgewerblich von Melodie zu Melodie verschraubt, manchmal auch bloß wie komisch aus der Spur gehupfter Folklorekitsch.

Tatsächlich scheint Nikakoi keine Berührungsängste zu kennen. Wo andere Elektronikmusiker sich mit dogmatischem Ernst an ein, zwei Halbtonschritten abarbeiten, setzt er überaus leichthändig auf Vermischung der Stile. Ein paar Dubspielereien hier, eine romantische Pianopassage dort, zwischendrin Sägezahnfrequenzen, die von Aphex Twin kommen und schnell wieder gehen. Beim schüchtern eingesungenen „Garden“ nimmt die Kuschelatmosphäre etwas überhand, bei „Sentimental“ schimmert die Sowjet-Vergangenheit durch: nicht als nostalgisches Ostblock-Zitat, sondern als Gruß aus einer nicht allzu weit entfernt liegenden Welt, in der Tiflis auf dem gleichen Breitengrad wie Rom liegt – und auf demselben Längengrad wie Bagdad. Vielleicht ist es ganz hilfreich, wenn man weiß, dass Nikakoi auf Russisch „niemand“ bedeutet. Vielleicht ist auch die Herkunft egal, solange der Georgier weiß, wo er hinwill. Hinaus ins weite Feld des Pop? Dann wäre Nikakoi im Muff von Berlin allerdings schlecht aufgehoben. HARALD FRICKE

Nikakoi: Shentimental (WMFREC / EFA)