Tod hinter dem Regenbogen

AUS RAFAH SUSANNE KNAUL

Der junge Mann steht geduckt hinter einer Hauswand und signalisiert seinen drei Freunden, dass sie kommen können. Sie rennen los, gefolgt von tiefschwarz verschleierten Frauen mit Körben auf den Köpfen, die sich hastig von Haus zu Haus den Weg über die Felder bahnen. Hundert Meter entfernt, auf der Salah ed-Din-Straße, der Hauptverbindungsstraße zwischen Khan Younis und Rafah, wird gekämpft. Die Schüsse hallen über die Äcker, in Sichtweite steht ein israelischer Panzer.

Seit Anfang dieser Woche ist Rafah, die südlichste Stadt im Gaza-Streifen, praktisch von der Außenwelt abgetrennt. Die „Operation Regenbogen“ der israelischen Armee dient offiziell der Verhaftung von Verdächtigen, der Waffensuche und der Zerstörung von Tunneln, durch die vom ägyptischen Teil der geteilten Stadt Rafah aus Rüstungsmaterial geschmuggelt wird. Ein großes Truppenaufgebot, Panzer und Bulldozer werden von Hubschraubern aus der Luft unterstützt. Gekämpft wird vor allem im Norden der Stadt Tel Sultan, der unmittelbar an die jüdische Siedlung Rafah Yam (Rafah-Strand) grenzt und in dem die israelischen Soldaten ihre Razzien durchführen. Am Mittwoch starben in Tel Sultan, von den Splittern einer israelischen Panzerrakete getroffen, acht Teilnehmer einer friedlichen Demonstration, darunter vier Kinder.

Die israelische Armee beeilte sich, ihrer „tiefen Bestürzung über den Verlust der getöteten Zivilisten“ Ausdruck zu verleihen. Dessen ungeachtet soll, so kündigte Verteidigungsminister Schaul Mofaz an, die Operation, „so lange es nötig sein wird“, fortgesetzt werden.

Auch die zunehmende internationale Kritik blieb vorläufig ohne erkennbare Folgen. Am Mittwoch verurteilte der Weltsicherheitsrat in New York die israelische Offensive im Gaza-Streifen. Überraschend verzichteten die USA auf ihr sonst übliches Veto und ermöglichten so die israelkritische Resolution. 14 der 15 Mitgliedstaaten befürworteten den Entwurf. Die USA enthielten sich der Stimme, weil der Waffenschmuggel durch die nach Rafah führenden Tunnel unerwähnt blieb.

Beerdigung der Märtyrer

Auch wenn die Operation zunächst fortgesetzt wird, rechnen politische Beobachter angesichts der Entwicklungen doch mit einer Beschleunigung des Abzugsplans aus dem Gaza-Streifen. Ende des Monats will Premierminister Ariel Scharon sein leicht verändertes Programm der Regierung vorlegen. Ein Punkt davon wäre ein ägyptisches Zutun bei der Bekämpfung des Waffenschmuggels.

Auf höchster Militärebene werden zunehmend Zweifel laut an der strategischen Notwendigkeit einer fortgesetzten Besatzung. Israel sei, so meinte vor kurzem der Verteidigungsminister, ohne den Gaza-Streifen möglicherweise sogar sicherer. Zugleich verliert Scharon Ansehen auf internationaler Ebene. Schon werden Parallelen gezogen zur „Operation Schutzschild“ vor zwei Jahren, als im Flüchtlingslager Dschenin fast 60 Menschen starben. Die Palästinenser sprechen bis heute von einem Massaker. Die „Operation Regenbogen“ in Rafah hat bislang 41 Menschenleben gefordert.

Schon Vormittags versammeln sich tausende Menschen vor der Moschee. In Rafah werden die Märtyrer, die Opfer des israelischen Angriffs, zu Grabe getragen. Der blaue Lieferwagen der Stadtverwaltung kämpft sich durch die Menge, vier Polizisten tragen einen aus einfachem Pressspan getischlerten und nur mit Klebestreifen verschlossenen Sarg in das Gotteshaus. Die Zeremonie beginnt erst, als zwei weitere Särge gebracht werden und die Familienangehörigen eintreffen. Sie kommen zum Teil direkt vom Krankenhaus. Dort steht die zweite große Menschenansammlung in der Stadt. Hunderte Männer und Frauen warten auf Nachricht von ihren verletzten Angehörigen. Ein Arzt in grünem Kittel und noch immer mit Gummihandschuhen an den Händen versucht die Menge zu beruhigen.

Ausgangspunkt der „Operation Regenbogen“ war, die Schneise entlang der Grenze so zu verbreitern, dass die patrouillierenden Soldaten geschützter wären. An der „Philadelphia Route“, dem Grenzstreifen zwischen Ägypten und Gaza, der unmittelbar durch das Flüchtlingslager der Stadt führt, wurden in der vergangenen Woche fünf israelische Soldaten bei einem Anschlag getötet. Insgesamt starben seither 13 Soldaten im Gaza-Streifen. Diskutiert wird deshalb nun auch das Anlegen eines bis 80 Meter breiten und 20 Meter tiefen Wassergrabens, der verhindern soll, dass Waffenschmuggler Tunnel bauen.

Chancenlos vor Gericht

Die Pufferzone zu verbreitern würde den Abriss tausender Häuser im Grenzgebiet bedeuten. Anfang der Woche zogen noch einmal 45 palästinensische Familien vor den Obersten Gerichtshof in Jerusalem, um das Wüten der Bulldozer zu stoppen. Die Richter genehmigten die Militäraktion jedoch und begründeten ihre Entscheidung mit „dringenden militärischen Notwendigkeiten“.

Seit Mittwoch vergangener Woche hat die Familie Sefiz kein Heim mehr. „Als die Bulldozer kamen, um alles zu blockieren, zugleich das Lager von Hubschraubern mit Raketen und Maschinengewehren beschossen wurde, sind wir weggerannt“, berichtet Mohammad Sefiz. „Sie schossen auf alle, auch auf Kinder und Alte.“ Acht Menschen seien bei der Aktion gestorben, so der noch immer fassungslose 31-Jährige. Die UNO-Abteilung für palästinensische Flüchtlinge UNRWA brachte die Flüchtlinge zunächst in einer Mädchenschule unter. Mohammad sitzt auf einer gewebten Bastmatte auf dem Fußboden des Klassenzimmers, das er seit einer Woche kaum verlassen hat.

„Wir haben nichts mehr, außer unseren Kleidern am Körper“, sagt er. Seit einer Woche trage er die gleichen Sachen. Zudem gibt es kein fließendes Wasser in der Schule. Der hoch gewachsene, schlanke Mann mit dem Sechstagebart, der unter normalen Umständen die Uniform der palästinensischen Polizei tragen würde, ist verzweifelt. „Es gibt keinen Wohnraum“, sagt er. Die UNRWA habe den Familien zwar finanzielle Unterstützung von 400 US-Dollar für das kommende halbe Jahr zugesagt, aber: „Wo sollen wir hin, wenn es keine Wohnungen gibt?“

Vor dem Klassenzimmer spielt eine Gruppe von barfüßigen Jungen Fußball. Die unbeschwerten Kinderstimmen dringen durch die vergitterten Fenster und vermitteln für einen kurzen Moment die Illusion von Normalität. Über der Schultafel hängen Plakate, auf denen eine Zeichenfigur Sportübungen macht, ein anderes zeigt die Muskelstränge des Menschen.

Mohammads Mutter Salma sitzt mit ihren Cousinen, deren Häuser ebenfalls zerstört wurden, auf Matratzen unter der Tafel. Ihr Mann musste am Tag der Häuserzerstörung ins Krankenhaus. „Sein Herz war zu schwach dafür“, erklärt Salma.

Die Vorwürfe der israelischen Armee, dass die Bewohner im Grenzbereich Waffenschmuggel betreiben, weist die Familie von sich. „Ich habe noch nie etwas von einem Tunnel gehört oder gesehen“, meint Salma. „In unserem Block gab es so etwas nicht.“ Ihre Cousine wirft ein, dass es gar nicht mehr möglich sei, Tunnel zu graben, da die Israelis eine Betonwand 20 Meter tief in die Erde eingelassen hätten. „Wenn wir wirklich an dem Schmuggel beteiligt wären“, meint Mohammad, „würden wir nicht hier sitzen.“ Die Betreiber der Tunnel verdienten gutes Geld.

Salma sitzt im Schneidersitz, die Beine unter ihre schwarzen Röcke gefaltet, darüber die Zipfel ihres Kopftuchs. Seit 56 Jahren lebt ihre Familie nach ihrer Flucht aus dem heute israelischen Jaffa in dem Haus, das nun zerstört ist. An einen Abzug, wie er derzeit in Israel diskutiert wird, glaubt Salma nicht mehr. „Seit 1948 reden sie davon, Gaza zu verlassen. Wir sehen nichts davon.“ Stattdessen werde die Situation immer schlimmer. „Seit vier Jahren haben wir das Meer nicht gesehen“, obschon Rafah nur einige hundert Meter davon entfernt liegt. Jetzt wolle sie nur noch Sicherheit. Nur noch in Frieden leben. Der Traum, eines Tages nach Jaffa zurückzukehren, ist für Salma ausgeträumt.

Über tausend Obdachlose

Erst vier Tage nach der Zerstörung, als die Soldaten zunächst wieder abgezogen waren, traute sich die Familie Sefiz zu ihrem Haus zurück. „Es war nichts mehr zu retten“, meint Salma. Einzig die Bewohner von Häusern, die später abgerissen wurden, konnten in letzter Minute ihre Habseligkeiten retten. Jene Häuser im Flüchtlingslager, die in der ersten Reihe vor der ägyptischen Grenze stehen, sind seither leer. Hier und da klafft eine Lücke, ein abgerissenes Haus. Allein in den vergangenen Tagen wurden weit über hundert Gebäude zerstört. Mehr als tausend Menschen sind obdachlos geworden.

Vor dem Kiosk im Flüchtlingslager sitzt ein Mann und wartet auf Kundschaft. Der vorbeikommende Pferdewagen, der beladen ist mit Matratzen, Kisten und Teppichen, hält nicht an.