Kassiopeia: Nicht von dieser Welt

In einem Laden, Lichtjahre entfernt von Karstadt und Kaufhof verkauft das Ehepaar Jon Steine, die aus dem Weltall auf die Erde plumpsten. Gestern vor genau 50 Jahren öffnete sich die Tür in eine andere Welt zum ersten Mal

aus Bremen Dorothea Ahlemeyer

In Bremen gibt es eine Geheimtür, von der kaum jemand weiß. Mitten in der Stadt, ein paar Schritte vom Aldi entfernt, in Bahnhofsnähe: Täglich brausen tausende Autos, hasten hunderte von Passanten an ihr vorbei und ahnen nichts von der fernen Welt, der fremden Zeit, in die man durch die Tür gelangt.

Sie alle verpassen eine Reise zurück in die 50er Jahre, in die exotischsten Winkel dieser Welt – und sogar bis ins All. Und sie verpassen wirklich grandiose Reiseführer. „Willkommen im Kassiopeia-Land,“ begrüßt der fast 80-jährige Josef Jon seine Kunden und entführt sie in ein Farbenmeer aus Edelsteinen, in dem sich die Frühlingssonne verfängt. Überall in seinen Altbau-Räumen hängen die kostbaren Steine, aufgefädelt an Ketten, Colliers und Armbändern, daneben stehen funkelnde Elefantenskulpturen und Säbelzahntiger, am Ende des Flurs wird frischer Tee aus den berühmtesten Plantagen der Welt verpackt und gewogen.

Belebungscolliers und Weltraumsteine

Jons Kassiopeia-Land ist zwar nur ein Laden. Aber was für einer. Seit genau 50 Jahren gehen hier die abgefahrensten Sachen über die Theke. Aus ganz Deutschland reisen Künstler und Sammler an, um sich mit Steinen, die aus dem All in die verborgensten Winkel dieser Welt plumpsten, und mit kraftspendenden Belebungscolliers aus sternzeichenspezifischen Kristallen auszurüsten. „Aber mit Esoterik haben wir nichts zu tun, wir sind Unternehmer, Realisten eben, wir drücken den Leuten auf der Suche nach der inneren Kraft nur entsprechende Prospekte in die Hand,“ sagt die 72-jährige Ursula Jon. Doch auch um ihren Hals glitzern die geheimnisvollen Steine, ihr Mann versteckt sie unter einem blauen Motorjachtbesitzerpullover.

Wo die Zeit Urlaub macht

Anfangs versandten der ehemalige Schiffsjunge- und U-Boot-Soldat und seine Frau bloß Kaffee und Tee in die gesamte Republik, Frachter brachten die Ware über die Nordsee nach Bremen. Irgendwann fragte dann ein Kunde bei ihnen nach Zuchtperlen aus Japan. Das Ehepaar stieg ins Diamantengeschäft ein. Die Jons verhandelten mit indischen Clan-Mitgliedern und Händlern aus aller Welt und bauten in den Altbauräumen an der hektischen Bismarckstraße 89 eine Oase auf, in der die Zeit fortwährend Urlaub macht. Das liegt nicht nur an den exotischen Skulpturen und kostbaren Ketten, sondern auch an den orientalischen Teppichen, an den Stuckrosetten unter der Decken, den Modellschiffen und rot-weißen Rettungsringen an jedem freien Stück Wand. Und an den gelben Pappschildern in Ostereierform, auf denen handgeschrieben die Preise stehen. Man guckt zweimal drauf, um sich zu vergewissern, dass sie wirklich mit Eurosummen etikettiert sind – sonst gibt es hier so gar kein Anzeichen dafür, dass wir uns im 21. Jahrhundert befinden.

Obwohl das Ehepaar das Rentenalter längst überschritten hat, können sich die beiden Vollbluthändler nicht recht von ihrer Arbeit trennen. Das Funkeln in Ursula Jons Augen konkurriert mit dem ihrer Edelsteine, wenn sie vom Duft der frisch aus Indien gelieferten Teesorten erzählt. Immer wenn bei Kassiopeia ein Paket eintrifft, ist das hier ein Tag wie Weihnachten. Auch der fast 80-jährige Josef kann es nicht lassen: „Mein Mann poliert noch immer ganze Nächte lang Edelsteine.“ Und ganze Tage verbringt er damit, seine Kunden zu ärgern, indem er sie als ungebildete Pisa-Germanen beschimpft. Aber das gehört zu Jons Geschäftsstrategie: „Wenn man die Leute tüchtig ärgert, erzählen sie ihren Freunden vom Einkauf und stehen schon bald wieder fasziniert vor der Tür.“ Und da werden sie herzlich empfangen, denn der alte Mann ist ebenso freigiebig und gutmütig wie frech.

Ein Laden der unendlichen Geschichten

Ob auch der Schriftsteller Michael Ende zu den illustren Gästen zählt, die Jons Geheimtür bisher durchschritten haben, ist nicht bekannt. Der Verdacht liegt nahe. Nicht nur weil die weise Schildkröte aus „Momo“ – dem modernen Märchen über die Zeit und ihr Verschwinden – denselben Namen trägt wie der Laden. Vielmehr, weil hier Phantasien schlummern. So in etwa muss der Laden aussehen, in dem Ende in einem anderen Werk den kleinen Bastian ein altes vergilbtes Buch mit dem Titel „Unendliche Geschichte“ aus dem Regal ziehen lässt. Gibt es bei Jons auch weit und breit keine Bücher – unendlich sind die Geschichten allemal, die die exotische Ware und ihre Verkäufer erzählen.

Informationen aus dem Jetzt und Hier: www.kassiopeia-bremen.de