Verrücktes Pferd auf der Autobahn

Freiheit oder Reflex? Die Videos des albanischen Künstlers Anri Sala in den Hamburger Deichtorhallen zelebrieren den methodischen Zweifel

Diese Bilder handeln nicht von Politik, und sie handeln nicht vom Betrachter. Sie thematisieren auch nicht, wie der Künstler beteuert, den Unterschied zwischen Entstehungs- und Wahrnehmungsort. All dies sind Finten, Fallen, aufgestellt für den gebildeten Westeuropäer, der zunächst vielleicht nichts anzufangen weiß mit den extrem langsamen Videos des 1974 in Tirana geborenen Anri Sala.

Denn im Grunde ist es egal, wo die Videos entstanden, die derzeit in den Hamburger Deichtorhallen zu sehen sind: Gemeinsam mit dem Musée d’art Moderne in Paris wurde die Ausstellung des in Paris lebenden Künstlers konzipiert, der inzwischen zu den wichtigsten Zeitgenossen zählt. Auch die Frage, ob einzelne Werke überinszeniert sind und ob der Titel „Wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen“ sonderlich aussagekräftig wirkt, ist nicht von Belang.

Die starke Suggestivkraft der Werke ist es vielmehr, die süffisant mit Deutungsreflexen spielt: Wo sind zum Beispiel die Aufnahmen jenes Hauses entstanden, von dessen Dach aus ein spiegelndes Rechteck gen Himmel blinkt? Bieten sich die digital hineinkomponierten, disharmonisch angerissenen Geigenklänge nicht geradezu vehement als Erklärungshilfen an? Ein bewusster Rückgriff auf die Klang-Ästhetik westlicher Balkan-Nachrichtenmagazine, die einem gleich auf die Sprünge hilft? Und auf den reflektierenden Flächen waren zuvor bestimmt Diktatorenbildnisse zusehen, folgert man messerscharf.

Und während sich der Betrachter an der flugs gefundenen Erklärung freut, entgeht ihm, dass dieses glatte Einsortieren den Blick auf die Realität versperrt. Dabei bergen die Aufnahmen die Lösung unmittelbar in sich: Eine Tabula rasa ist zu sehen – kaum verhohlener Appell, mit Fremdwissen angedickte Erklärungen zu entsorgen und lieber selbst zu betrachten, was ist.

Doch auch eine direktere Variante des Spiels mit Reflexen ist zu finden, auch sie mit halb-politischer Bedeutung unterlegt, der anheimzufallen jedem freigestellt ist: Ein Spiel mit stark auf Licht ansprechenden „Geisterkrabben“ hat Sala für die „Ghostgames“ inszeniert. Und so geriert sich die im Dunkeln aufgenommene Szene als Kampf zwischen Menschenfüßen und Krabben, ohne dass die Hierarchie aufgegeben würde: Per Lichtstrahl zwingen die Menschen die Tiere zum Schreittanz – ein brutaler danse macabre.

Und auch wenn sich das nächtliche Angeschwemmt- und Gejagtwerden als Parabel auf die Lage illegaler Migranten lesen lässt, lauert darunter doch die Frage, wer eigentlich im Alltag mit wessen Reflexen spielt. Wie frei ist der konsumgewohnte Mensch; ist sein am zynischsten nutzbarer Reflex nicht der Glaube an die Selbstbestimmheit?

Und wäre es nicht denkbar, dass manche „Kulturtechnik“ irgendwann nicht mehr kompatibel ist, fragt das Video „Time after Time“. Ein Pferd steht dort auf dem Seitenstreifen einer Autobahn, von vorbeifahrenden Lastern angehupt. Dabei stört das Tier gar nicht, es hält sogar Blickkontakt zum Gegenverkehr. Es ist lediglich ein Element, dessen Existenz am „falschen“ Platz mit einer ebenso sinnlosen Reaktion bedacht wird: mit Hupgeräuschen, als wüssten LKW-Fahrer nicht, dass die Gefahr eher wüchse, wenn sich das Pferd darob auf die Fahrbahn begäbe. Letztlich ist nicht das Tier unterlegen, sondern der Mensch, sagt dieses Video: Das Pferd mag verrückt sein, reagiert aber angemessen auf die Situation – es regt sich nicht –, während die Fahrer reflexartig auf das Signal „Hinderniss“ reagieren.

Eine zum Tode führende Erstarrung menschlicher Kommunikationsmuster offenbart dieses Video, das – wie die meisten anderen – im „claire obscure“ aufgenommen ist und das sich weigert, Welt durch Ausblendung „unpassender“ Facetten in ein pflegeleichtes Ganzes aus fröhlich kompatiblen Puzzleteilchen umzuwandeln. Und das außerdem ein leises Erstaunen angesichts der Unfähigkeit der Rasenden, mit dem Statischen, umzugehen, atmet: Endet nicht irgendwann jeder im Andante?

Er habe an der Freskenmalerei, die er bis zur politischen Wende in Albanien studierte, vor allem die Langsamkeit geschätzt, sagt Anri Sala. „Als sich die Verhältnisse änderten, empfand ich diese Technik nicht mehr als angemessene Antwort auf die neu aufbrechenden Diskurse, weshalb ich zum Video gewechselt habe.“ Doch ganz von der Malerei getrennt hat er sich nie: Die Frage nach der soziologischen Bedeutung von Farbe hat Sala nie losgelassen. Und vermutlich hat er immer noch nicht entschieden, in welchem Fall Farbe potemkinsches Dekorum ist und in welchem real therapeutisch: Die bunte Bemalung der Häuserfassaden zählten zu den ersten Maßnahmen des Bürgermeisters von Tirana, der auf dem Video „Dammi i colori“ von seinem Versuch erzählt, Farben als Vorboten kommender Veränderungen einzusetzen. Ein merkwürdig zeitverdrehtes Prozedere, wenn man bedenkt, dass etwa in Ostdeutschland der Neuanstrich die letzte aller Nachwende-Renovierungsmaßnahmen war.

Und in Tirana? Ist dies vielleicht ein Verzweiflungsakt angesichts der Tatsache, dass bis zu Abwassersystem-Installation und Straßenbefestigung noch viel Zeit vergehen wird. Monologe des Bürgermeisters unterlegen die Bilder der surreal wirkenden Stadt. Ein interessanter städtebaulicher Ansatz, der nach der Schnittmenge von Kunst und Soziologie fragt, in den Deichtorhallen aber merkwürdig folkloristisch wirkt. Und fragt man sich, ob dieses Video nicht die sehr private Reflexion eines Künstlers ist, der so der Trauer über die schleppende Entwicklung seiner Geburtsstadt Ausdruck verleiht. PETRA SCHELLEN

Anri Sala: „Wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen“. Deichtorhallen Hamburg. Geöffnet Di–So, 11–18 Uhr; bis 1.8.2004