Versuchskaninchen im Hamsterkäfig

„Flic Flac“ im Selbstversuch: Beim Journalistentraining 13 Meter über der Manege helfen Filmrisse gegen die Höhenangst. Manchmal macht das Rad dort droben nicht alles, was man will. Dann werden Gliedmaßen zu Eisbrocken

Kein Duft von Sägespänen in der Nase, die Manege ist mit Teppich ausgelegt.

von HILDEGARD FILZ

„Yeah – niiicht festhalten – nicht das Seil festhalten – yeah – Hände strecken – zur Seeeite“, Buchstaben, zu klangvollen Kommandos aneinandergereiht, schaffen es durchs dunkle Nichts in mein handtuchbreites Hamsterrad, fünf Meter über all denen, die es gut mit mir meinen. Mein offener Käfig lässt keine Wahl. Ihn verbindet ein Stahlträger – an Decke und Boden durch Drahtseile gesichert – mit einem zweiten Rad. Dort schlängelt sich Nikolay Karakolev (19). Blondes Kurzhaar, kein Gramm zuviel im weißen Turndress. Erschreckend perfekt. Eine Longe braucht der Artist aus Bulgarien nicht. Er braucht mich. Meine Bewegungen gleichen seine aus. Der Kreislauf will es so.

„Testen Sie Ihren Mut im Todesrad“, stand auf dem Fax, mit dem „Flic Flac“, die Zirkuscrew, für ein Journalistentraining warb. „Spaß für Leib und Seele ist garantiert“, versicherte Sprecherin Iris Vollmann ins Telefon. Seit der tränenreichen Hamsterfahrt einer Kollegin sei deren Höhenangst passé. Also doch: Mehr Kampf um Leib und Leben als Spaß für Leib und Seele.

„Was verboten ist, muss nicht schlecht sein“, schießt es mir durch den Kopf. Keine Gedanken mehr. Nur Gefühle. Intuitionen. Fingern nach dem Seil, damit die Arme eine Aufgabe haben, nur nicht mit leeren Händen dastehen, was bitte sollen die Beine tun? „Nicht nach unten sehen –bloooß nicht.“ Neue Befehle aus dem schwarzen Loch weit unter mir, es ist die Stimme von Iris Vollmann, die mich auf dieser Rundreise begleitet. Der rechte Fuß trippelt nach vorn, der linke folgt ihm, treu und zuverlässig. Rechter Fuß, linker Fuß. Nur Ruhe, Ruhe, Ruhe kriegen, bis ich ahne: Ich kann mich auf beide verlassen. Auf mich. Ein gutes Gefühl – irgendwo zwischen Himmel und Erde.

„Flic Flac“ – das ist kein Zirkus, das ist ein Zirkus-Thriller. „Unzensiert“ heißt die neue Show, die 35 Artisten auf dem Heiligengeistfeld inszenieren. Unzensiert sind die 17 artistischen, komischen und parodistischen Nummern: Alles passiert ohne Netz, ohne doppelten Boden, ohne Seil.

„Flic Flac“ wurde in Isselburg nahe Bocholt geboren. 1989 strickten die Artisten Benno Kastein und Scarlett Kaiser-Kastein das Konzept – ein Mix aus klassischem Zirkus und spektakulärer Artistik, verpackt als Lasershow. Trubel statt Plüschromantik, chaotisch, wild, laut, der ohne Tiere auskommt und preisgekrönt ist: Für innovative Leistungen wurde „Flic Flac“ 1996 mit der „Goldenen Europa“ ausgezeichnet. Bundesweit gehen internationale Künstler auf Tournee. Täglich stehen Proben an: Ein Gemisch aus englischen, russischen und polnischen Wortfetzen flirrt über 1350 noch leere Sitzplätze im Zelt.

Kein Dreivierteltakt, sondern Rockmusik. Kein Duft von Sägespänen in der Nase, die Manege ist mit Teppich ausgelegt. Dort jonglieren sie auf einer sich drehenden Brücke, animiert ein Bauchredner zum Schenkelklopfen, rasen drei Motorcross-Fahrer durch die vier Meter breite wie hohe Eisenkugel „Globe of Speed“. Ein Hummelflug mit siebzig Sachen.

Die Kuppel kommt näher, Trippelschritt für Trippelschritt. Wohlige Wärme fließt durch meinen Körper, der gelbe Spot verfolgt mich in 13 Metern Höhe. 180 Grad weiter streift Nikolays Rad fast den Boden. Meine Füßen wollen weiter, das Rad will es nicht. Ruckelt, quietscht, hat seine eigene Sprache. Eiseskälte überfällt alle meine Gliedmaßen. „Uuund – stopp. Bleiben Sie ein paar Sekunden oben – das weckt alle Kräääfte.“ Das einzige, was dieser Satz in mir weckt, ist Unbehagen. Nein, Iris Vollmann, so nicht. „Sofort weiter – sofort weiter“, höre ich meine Stimme. Diesmal will ich das Kommando übernehmen. Mit Erfolg.

Plötzlich geht alles schnell. Vor mir das Gitter, die Arme brav in der Luft, die Füße kennen ihren Weg. Ich spüre, wie sich die Gedanken neu formen. Filmrisse im Sinn: Ich sehe meine Helden auf Zelluloid und die, die sie standhaft vertreten: die Stuntwomen und Stuntmen. Ich sehe die Artisten und ihren Hochleistungssport. Ich bin ganz da. Denke daran, dass mich bereits eine Maschine im „Globe of Speed“ umkreiste, ich auf der Drehbrücke den Kampf gegen die Fliehkraft gewann.

Ein kurzer Schwung noch, ich lande sanft. Kein Reinfall. Kostadin Popov tritt an meine Stelle – als neues Gegengewicht für Nikolay. Ich zittere allüberall und bin glücklich.

„Flic Flac“ bis 6. Juni auf dem Heiligengeistfeld. Kostenlose Sondervorstellung für soziale Einrichtungen am Mittwoch, 26. Mai, ab 16 Uhr. Informationen und Karten unter ☎ 07 00/66 66 66 11