berliner szenen Sinn und Bedeutung

Verlieren ist o. k.

Erst einen Tag nachdem ich die Sonnenbrille verloren hatte, war mir ihr Fehlen aufgefallen. Am Unglückstag hatte es geregnet, nun war es wieder schön und ich dachte an die Sonnenbrille und daran, dass sie gestern noch da gewesen war. Ich hatte sie gar nicht aufgehabt, weil die Sonne ja nicht gekommen war, und nachdem ich genug gelesen hatte, war der veganische Jungle-World-Verkäufer an den Tisch getreten, hatte – wie genau vor einem Jahr – gefragt, ob es bei der taz einen Tierrechtsexperten gebe, ich hatte verneint, bezahlt, war gegangen und plötzlich hatte es in Strömen zu gießen begonnen.

Ich war vielleicht zwanzig Meter gerannt und es hatte beim Rennen irgendwann klack gemacht. Zunächst hatte ich gedacht, mein Füller sei wieder durch das kleine Loch in der Hosentasche aufs Pflaster gefallen. Der Füller war aber noch da. So hatte ich dem Klacken keine Bedeutung zugemessen. Dass es wohl der Abschiedsgruß meiner Sonnenbrille gewesen war, fiel mir erst am nächsten Tag auf, den ich damit verbrachte, den Verlust der Sonnenbrille noch einmal zu rekonstruieren. Zu verlieren ist okay, aber etwas zu verlieren äußerst unangenehm. Um ein zentrales Attribut verringert, verliert man an Sinn, Form und Bedeutung. Man weiß zwar, dass die Sonnenbrille weg ist, hat es aber immer noch nicht begriffen. So schaut man überall noch einmal nach, immer wieder, und entdeckt dabei Sicherheitslücken im System; die Tasche im Jackett zum Beispiel, die man für eine Sonnenbrillentasche gehalten hatte, war in Wirklichkeit eine Taschentuchtasche und viel zu klein für eine Sonnenbrille, die deshalb ohne Mühe hinausgesprungen war, um sich nun mit einem anderen Menschen zu schmücken. DETLEF KUHLBRODT