Ich war Techno

Verraten von den eigenen Leuten: Marusha war einst das bekannteste Rave-Mädchen der Republik. Jetzt, zehn Jahre nach „Somewhere over the Rainbow“, ist ihr neues Album „Offbeat“ erschienen

VON HENNING KOBER

Die Avus-Autobahn, Mittagszeit, sanftes Dahingleiten, ein schöner Tag im Mai. Aus den Boxen eine neue CD: „Shake your body, shake shake your body for me, oh yeah“. Es erklingt eine Frau, die – überraschenderweise – ihre Stimme extrem rauchig, dunkel angesext raunen lässt. Der dazugehörige Körper knotet sich eine Viertelstunde später die Beine zum Schneidersitz.

Vor uns auf einer Bank hinter den Studios des Radiosenders Fritz in Potsdam-Babelsberg sitzt das Gesicht der Massentechnotage – DJ Marusha. 37 Jahre inzwischen. Körperlich eher klein und zart, blinzelt sie freudig in die Sonne. Die Augenbrauen, um das gleich vorweg zu sagen, sind nicht mehr grün gepinselt, schon lange nicht mehr, wie sich überhaupt viel geändert hat im Leben der Marusha Aphrodite Gleiss. Sie bittet um eine Zigarette, ist etwas unglücklich, dass keine Cola Light verfügbar ist. Im Studio hinter uns produziert sich gerade die nächste „Rave Satellite“-Sendung. Es läuft ein Mixtape, das in 50 Minuten gewechselt werden muss.

Wir sprechen erst mal über Sport. Als Mädchen, also richtiges Mädchen, denn die Rolle sollte ihr noch lange erhalten bleiben, war sie auf einer Sportschule. Leichtathletik und Bodenturnen ihre Disziplinen, Sportlehrerin wollte sie werden. Aufgewachsen ist sie in Nürnberg. Ein Punk war sie. Die Haare kein Iro, sondern wilde Zöpfchen, aber der echte Punk wohnt ja sowieso im Herzen, und Marusha wollte sich vor allem „abgrenzen und anders sein“. Eine Vorstellung, dass sie ihrem Leben nicht von der Seite weichen will. Unabhängig sein. Das ist sie heute durchaus, denn die einst Platinveredelte, das Bravo-Cover-Girl, ist in Deutschland wieder da, wo sie seit Anfang zwanzig ihr zu Hause sieht – im Untergrund. Das neue Album „Offbeat“ verteilt sich mit 5.000 Stück über die Läden. Veröffentlicht wurde es auf dem Label Ping Pong Productions, zu einem Drittel im Besitz der einzigen dort veröffentlichenden Künstlerin, ihrer selbst.

Was ist passiert? Tatsächlich sind zehn Jahre vergangen seit „Somewhere over the Rainbow“, ihrem Hit, der die Finanzkraft von Low Spirit um einiges erhöhte. Aus der Liebe zu Fabian Lenz, der sich früher DJ Dick nannte, und der Freundschaft zu dessen Bruder Maximilian alias Westbam, der ihr einst das Scratchen beibrachte, ist kaltes Schweigen geworden. Vor kurzem haben sie mal wieder zusammen aufgelegt, erzählt die sonst so freudig Worte in den Raum klebende Marusha einsilbig. Die wenigen Sätze, die dabei gewechselt wurden, müssen sehr oberflächlich gewesen sein. 1998 war das letzte Marusha-Album „No Hide No Run“ auf Low Spirit erschienen, Marusha entdeckte in der Folge ihre alte Liebe zu den Breakbeats wieder. Sie bastelte an Drum&Bass-Tracks, die nicht mehr zum Spirit passen sollten und deshalb nur versteckt beim Sublabel Electric Kingdom unter dem Kurznamen „Maru“ veröffentlicht wurden.

In die Warteschleife verbannt, vertröstet und vergessen war sie ihrem Gefühl nach. „Es schadet dir mehr, wenn wir jetzt eine Platte rausbringen“, war die demütigende Ansage. Auf dem Peak des Marusha-Hypes im Sommer 1994 kümmerten sich beim damaligen Distributor Motor Music vier Promotor um das „Thema“. Marusha war das ideale Produkt, um einer breiten Öffentlichkeit Techno zu erklären. Die Emma feierte sie als Feministin. Tempo nannte sie „Püppi Langstrumpf“. Nur für den Spiegel, der nie mit ihr gesprochen hat, war sie eine „eklige Berlin-Schlampe“ und „zugedrogte Frau“.

Seit diesen Tagen muss sie auf einer breiten Welle von Hohn und Spott surfen. Bis heute ist sie gebrandmarkt als Verderberin des Techno, so als könnte sie etwas für die dem „Rainbow“-Hit folgende Welle von schlechtem Kirmestechno. Benutzt wurde sie, das ganz große Geld haben die Männer im Hintergrund verdient. Aber darüber will sie nicht weiter sprechen. Weitere Details wird man in ihrer Autobiografie nachlesen können, an der Marusha seit Jahren schreibt. Falls sie veröffentlicht werden sollte, ganz sicher ist sie da noch nicht. Jetzt soll es erst mal um „Offbeat“, das neue Album, gehen. Old School und Drum&Bass, ihre Vorliebe der letzten Jahre, dominieren die Beats. Eingängig poppig klingt das meist, ihre Stimme schenkt den Tracks die Stimmung. Die Texte sind kleine Dichtereien, nicht zu kompliziert, aber frei von Spottanlässen. Lässt sich problemlos durchhören, auch öfter.

„Respekt“ ist das Wort und die zugegebenermaßen etwas verklemmte zentrale Selbstverständigungsformel für Marusha. Sie erfährt ihn von ihren Fans, die besonders in Ostdeutschland und Osteuropa treu sind. In St. Petersburg legt sie schon mal vor 30.000 Menschen auf, erzählt sie. Immer noch ist sie viel unterwegs, jedes Wochenende gebucht, auch die seit 14 Jahren laufende „Rave Satellite“-Sendung tut ihren Teil dazu. Gute Platten, garantiert nicht aus den Charts, stellt sie vor, bietet dem Nachwuchs oft die Chance. Der Weg zur Legende ist vorgezeichnet, immer öfter und wohl bis ins hohe Alter wird sie den neuen Jungen den verrückten Raveplaneten der frühen Neunziger erklären müssen.

An dieser Stelle ein kleiner Gruß an all die Skeptiker, die in der Tradition der Rückenmarksschwundlegende vor den schädlichen Folgen des Ravens gewarnt haben. Bis auf das leicht lädierte rechte Ohr sitzt hier eine gesunde Frau, die sich von den giftigen Substanzen der Nacht ferngehalten hat. Vielleicht schon bald auch Mutter. Vielleicht auch nicht. Sie hat einen Freund, seit Jahren schon. Sie engagiert sich für die Internationale Friedensstiftung, lebte letztes Jahr zwei Monate auf Kuba und denkt an den Moment der Tibetreise. Joschka Fischer hält sie für einen großartigen Außenminister, die Einladung zum Tee nahm sie trotzdem nicht an, weil zu viele Fotografen dabei sein sollten. Wieder betont sie ihre Unabhängigkeit. Politische Fragen diskutiert sie trotzdem gerne und schafft es mühelos, in denselben zehn Minuten die nie stattgefunden habende Entnazifizierung zu beklagen und die abhanden gekommene deutsche Kollektivseele zu bedauern.

Ihr Traum? Nach Remixen für die Bee Gees und Xavier Naidoo einen für Madonna, die sie leidenschaftlich bewundert. Wer da nervös bad taste wittert, dem sei gesagt, sie darf das, aus persönlicher Bekanntschaft mit Guy Ritchie, der ihr 1996 ein Video zur Single „Deep“ in Bilder einfing. Ein Blick zur Uhr, sie muss noch oben ins Studio, das Tape wechseln. Danke und: Respekt.

Heute Abend Release Party, 23 Uhr im 12/34, Stralauer Allee 1, Friedrichshain