Milliarden unterwegs

von HANNA GERSMANN
, KATHARINA KOUFEN
und NICK REIMER

November 1998, Klimagipfel in Buenos Aires: Der neue Bundesumweltminister Jürgen Trittin (Grüne) kritisiert die USA. „Jeder muss seine Hausaufgaben machen“, sagt er und verweist auf den Bundesverkehrswegeplan. Wenn der erst rot-grün überarbeitet sei, werde Deutschland sein Klimaziel schaffen.

Was seinerzeit ehrgeizig verkündet wurde, brauchte fast sechs Jahre, um Gestalt anzunehmen: Heute soll der Verkehrswegeplan das Kabinett passieren. „In den letzten Wochen ging es im Ministerium zu wie vor Weihnachten beim Postamt Himmelpfort“, sagte gestern ein sichtlich zufriedener Bundesverkehrsminister Manfred Stolpe. „Jemand wollte eine Ortsumgehung auf keinen Fall, der andere wollte sie im Norden, der Dritte im Süden.“ Jetzt aber sei „die Diskussion abgeschlossen“.

Von seinem Vorgänger, dem Bundesverkehrswegeplan 1992, unterscheide sich die rot-grüne Version „in drei Ansätzen“: Er sei zum ersten Mal „realistisch finanziert“. Was heißen soll, dass nur noch etwa ein Drittel mehr Projekte in dem Plan aufgeführt werden, als Gelder vorhanden sind – im alten Verkehrswegeplan fehlten rund 45 Milliarden Euro. Zweitens sei er sehr viel „europäischer“ gedacht. Denn im Zuge der EU-Osterweiterung werde vor allem der Ost-West-Verkehr zunehmen. Und drittens: „Wir legen Wert auf maximale Transparenz“, so Stolpe. Deshalb sei bereits der Referentenentwurf im März öffentlich vorgestellt worden.

Was auf die Bundesbürger bis 2015 zukommt, lässt sich in Zahlen folgendermaßen ausdrücken: Insgesamt 148,9 Milliarden Euro sollen in die Verkehrswege investiert werden, 77,5 Milliarden in die Straße, 63,9 Milliarden in die Schiene und für Wasserstraßen 7,5 Milliarden. Damit billigt ausgerechnet Rot-Grün dem Straßenbau einen Rekordetat zu. Betoniert Manfred Stolpe weiter wie seine Vorgänger?

Mitnichten, meint der grüne verkehrspolitische Sprecher Albert Schmidt. „Schiene und Straße werden erstmalig gleich behandelt.“ So stehe es schließlich auch im Koalitionsvertrag. Bahnkenner sehen das anders. Sowohl Dirk Flege von der „Allianz pro Schiene“ als auch Michael Gehrmann vom Verkehrsclub Deutschland werfen Rot-Grün „faule Rechentricks“ vor. Ihre Begründung: Die Koalition addiert für die Schiene 14 Milliarden Euro aus den so genannten Regionalisierungsmitteln hinzu, die den Ländern für den Bahnverkehr zur Verfügung stehen. „Das heißt aber noch lange nicht, dass sie tatsächlich in die Schiene fließen“, so Gehrmann. Zudem erhalte auch die Straße Mittel aus anderen Töpfen, die aber „werden unterschlagen“.

Noch nie wurde so viel Geld in Sanierung gesteckt: 82,7 Milliarden Euro. Ihnen stehen 66,2 Miliarden für Neu- und Ausbau entgegen. Und für die vielerorts miserablen Gleise bedeutet Sanierung – anders als bei der Straße – häufig einen wahren Qualitätssprung, betont Albert Schmidt.

Der grüne Verkehrsexperte zieht von den Neubau-Mitteln im Übrigen noch vier Milliarden Euro ab. Denn der einstige CDU-Verkehrsminister Mathias Wissmann ließ in den 90er-Jahren Straßenprojekte gerne aus privater Hand vorfinanzieren, beispielsweise die B 31 in Freiburg. Bis 2015 muss die Bundesregierung die Schulden aber zurückzahlen – Zinsen inklusive. Geschuldet ist das vor allem dem alten Bundesverkehrswegeplan von 1992. Wissmann-Vorgänger Günther Krause (CDU) hatte ihn als nicht finanzierbaren Wunschzettel konzipiert.

Der neue Bundesverkehrswegeplan wird ganz anders – versprach die rot-grüne Regierung bei ihrem Antritt 1998. Finanzierbar sollte er sein, Umweltapsekte berücksichtigen, das Klimaschutzziel ermöglichen. Die Koalition legte die Messlatte hoch – so hoch, dass der Referentenentwurf lange auf sich warten ließ. Kurz vor der Bundestagswahl im letzten Jahr sollte er nicht für schlechte Stimmung sorgen. Die knapp 2.000 von den Ländern gewünschten Verkehrsprojekte mussten eine verkehrs- und umweltpolitische Bewertung über sich ergehen lassen. 350 bestanden den Umweltcheck nicht – sie wurden gestrichen oder angepasst.

Das wichtigste Bewertungskriterium für die rot-grüne Verkehrsplanung blieb aber die Kosten-Nutzen-Analyse: Wie viel Zeit sparen Anwohner oder Lieferanten, wie viele Arbeitsplätze bringt das Projekt, wie viele Unfälle werden vermieden? Die Antwort – normiert in Euro – ergibt eine Klassifizierung: Alles, was pro investiertem Euro einen volkswirtschaftlichen Nutzwert von 2,50 Euro bringt, wird als „vordringlich“ eingestuft.

Allerdings weist der Verkehrswegeplan auch Projekte als „vordringlich“ aus, die nicht diese Quote erfüllen: Etwa die so genannte Kanzler-Autobahn Magdeburg – Schwerin. Die wird so genannt, weil Gerhard Schröder sich im Wahlkampf 2002 – auf dem Ost-Parteitag in Magdeburg – hinreißen lies, die Betonpiste „zu versprechen“. Entsprechend kritisiert der BUND den Plan: Die vom Bundesverkehrsministerium prognostizierten 16.000 Autos pro Tag passten „locker auf eine zweistreifige Bundesstraße“, sagt Verkehrsexperte Tilmann Heuser.

Kein Einzelfall: Alle „Verkehrsprojekte Deutsche Einheit“, die einst gesetzlich verankert wurden, gelten auch heute noch als unumstößlich. Der rot-grüne Verkehrswegeplan übernahm sie prüfungslos aus dem schwarz-gelben. Dazu gehört auch die Thüringer-Wald-Autobahn. Sie allein verschlinge schon rund ein Viertel der Gesamtinvestitionen für die Schiene, schätzt Tilmann Heuser. Verkehrsminister Stolpe kündigte allerdings den Ostbonus auf: Während die laufenden und fest disponierten Kosten derzeit – und noch ein paar Jahre – im Osten fast so hoch sind wie im Westen, betragen die Ost-Investitionen für geplante neue Vorhaben nur noch ein Fünftel.

Verheerend fällt die klimapolitische Bilanz des Verkehrswegeplanes aus. Nach einem so genannten Laisser-faire-Szenario steigt die Kohlendioxid-Emission bie 2015 um 17 Prozent – bezogen auf 1997. Dieses Szenario berücksichtigt bereits grot-grüne Verkehrspolitik – etwa die eingeführte Lkw-Maut. Der Verkehrswegeplan verweist auf ein so genanntes Integrationsszenario. Aber erstens verweist der Verkehrswegeplan darauf, dass dieses Szenario „losgelöst von seiner Finanzierbarkeit modellhaft“ berechnet sei – was schon viel sagt. Und zweitens würde selbst nach diesem die CO2-Emission noch um 11 Prozent wachsen.

Wie hilflos die Politik diesem Phänomen gegenübersteht, belegt der Plan selbst: Während nämlich der Güterverkehr bis 2015 um 64 Prozent wächst, würden nach dem Integrationsszenario die CO2-Emissionen „nur“ um 26 Prozent wachsen. Unter Rot-Grün stieg im Jahr 2000 erstmals seit 1995 der Kohlendioxid-Ausstoß wieder an.

Aus welchem verkehrspolitischem Holz Bundesverkehrsminister Manfred Stolpe geschnitzt ist, demonstrierte er gestern am Beispiel der Magnetschwebebahn. Warum nicht eine Strecke Leipzig – Berlin? Wenn Leipzig den Zuschlag für die Olympischen Spiele 2012 erhalte, könnte Sachsen damit „beweisen, dass Berlin doch nur ein Vorort von Leipzig ist“, so Stolpe.

So viel jedenfalls steht für Tilmann Heuser fest: 2012 wird Berlin nicht eingemeindet sein. 2012 wird Stolpe nicht mehr Verkehrsminister sein. Und spätestens 2012 wird man endlich umweltgerechte Verkehrsplanung betreiben – aus Kosten- und Klimaschutzgründen.