Fluchtpunkte

Regiediplomandin Regina Gyr inszeniertin „Baraccapolis“ auf Kampnagel Überlebenskämpfe

Wo der Strom aus der Wand und das Schnitzel aus dem Supermarkt kommt, da erlaubt sich der moderne Großstadtmensch Phantasien vom ursprünglichen Landleben. Eine Hütte in den Schweizer Bergen wird zum Fluchtpunkt aus dem Alltag, jenseits der Infrastruktur der Städte gelegen, in denen die unmittelbare Frage nach dem täglichen Überleben aus dem Bewusstsein verschwunden ist. Und so bleibt der Traum vom Selbstversorgerdasein ein Symptom der Industriegesellschaft, der sich, wenn er plötzlich Realität wird, zum Albtraum wandelt.

Wenn in den Städten plötzlich das Licht ausginge und die Supermärkte leer blieben, müsste der Konsumbürger allerdings tatsächlich wieder zum Jäger und Sammler werden und sich aus dem, was übrig bliebe, ein Dach über dem Kopf zimmern. „Für mich sind die Hütte auf der Alm und der Verschlag im Slum im Grunde das Gleiche“, erklärt Gyr, „hier wie dort gelten dieselben Überlebensprinzipien“.

Die Schweizerin, Regiediplomandin an der Uni Hamburg, hat frei nach Romanen von Tim Krohn, John Berger und Paul Auster das Triptychon Baraccapolis entwickelt. Das Stück, das jetzt auf Kampnagel uraufgeführt wird, spielt mit den archaischen Sehnsüchten und Ängsten des Menschen und berichtet von ihrem täglichen Überlebenskampf.

Eingeleitet wird der Abend von mythischen Sagenbildern aus der Schweizer Bergwelt; später kann das Publikum die letzten Schritte einer Kuh auf dem Weg zur Schlachtbank beobachten, die Bergers Roman SauErde entstiegen ist. Schließlich entwirft Gyr die futuristisch anmutende Albtraum-Variante des Überlebensprinzips in der zerfallenden Stadt, in Anlehnung an Paul Austers Im Land der letzten Dinge.

Herausgekommen sind drei monologisch gespielte Bilder, die, bevor sie Geschichten erzählen, vor allem menschliche Zustände in unterschiedlichen (Über-)Lebenssystemen ausstellen wollen. Verbunden werden die einzelnen Szenen des Triptychons durch die Variation des immer gleichen Themas der Material- und Essensuche.

Die Figuren sind dabei Verkörperungen eines sich wiederholenden Prinzips, das Regina Gyr „schamanistisch“ nennt: Vor dem Hintergrund der abstrakten Orte Land und Stadt, die die Bühnenbildnerin Sophie Kreyer mit den Materialien Holz und Plastik aufruft, sollen die Bilder und Figuren eine Saite im Zuschauer anrühren und ihn vor allem zurückwerfen auf das Bewusstsein seiner eigenen animalischen Bedingtheit.

Jana-Axinja Paschen

Uraufführung: Mi, 26.5.. Weitere Vorstellungen 28. und 29.5., jeweils 20.30 Uhr, Kampnagel