Hoffen auf ein Wunder vom Bosporus

„Dany is back in town“: Grünen-Spitzenkandidat Cohn-Bendit diskutierte mit dem Schriftsteller Zafer Senocak über „Gott, die Welt und Europa“. Im Mittelpunkt stand die Debatte über einen EU-Beitritt der Türkei – und Wahlkampfhilfe für Helga Trüpel

Bremen taz ■ Dpa war irritiert: „Der Europa-Wahlkampf hat begonnen – doch kaum jemand merkt es“, überschrieb die Nachrichtenagentur gestern eine ihrer Meldungen. Und weiter: „Die Wahlplakate kleben seit Wochen an jeder Straßenecke, doch die Kandidaten kennt kaum jemand.“ Für den Wahlkampf der Bremer Grünen gilt das nur sehr bedingt. Immerhin war Kandidatin Helga Trüpel früher einmal Senatorin, heute ist sie Vize-Präsidentin der Bremischen Bürgerschaft, und der von ihr angekündigte Wahlkampf der „Multiplikatoren“ läuft auf Hochtouren.

Sogar der Grünen-Spitzenkandidat ließ sich jetzt blicken: „Dany is back in town“, jubelte es von den Plakaten – Daniel Cohn-Bendit war am Samstagabend ins Musicaltheater gekommen, um an der Podiumsdiskussion „Kultur MACHT Europa“ teilzunehmen. Man habe versucht mit dieser „Talkshow am Samstagabend“ eine Form von Wahlkampf zu finden, „die hoffentlich in Teilen vergnüglich ist“, sagte Trüpel. „Über Gott, die Welt und Europa“ solle gesprochen werden. Neben Cohn-Bendit und Trüpel, die sich auf ihre Rolle als Moderatorin beschränkte (Cohn-Bendit nannte sie einmal ironisch „Sabine Christiansen“), saß der Schriftsteller und Publizist Zafer Senocak mit am Tisch. Senocak wurde 1961 in Ankara geboren und lebt seit 1970 in Deutschland.

Cohn-Bendit, der seit zehn Jahren Mitglied im Europäischen Parlament (EP) ist, hat die Lust an der Arbeit in Brüssel und Straßburg keinesfalls verloren. Stadtrat für multikulturelle Angelegenheiten in Frankfurt am Main zu sein sei ja „am Anfang ganz witzig gewesen“, sagte er. Doch gegenüber der Arbeit im EP betrachte er die Arbeit in einem Kommunal- oder Landesparlament („Entschuldige bitte, Helga“), ja sogar im Bundestag als „unheimlich langweilig“.

Für Cohn-Bendit stellt sich die Europäische Union als eine Reihe von „Wundern“ darf. Nach dem „Wunder vom Rhein“, also der Aussöhnung mit Frankreich, sei es mit der jetzigen Osterweiterung der EU zum „Wunder von der Oder“ gekommen, so der charismatische Grünen-Veteran. „Auch dieser Fluss ist jetzt keine Kriegsgrenze mehr.“

Zafer Senocak, mit gelbem Schriftsteller-Schal und kettenrauchend, plädierte dafür, die „sehr stark emotionalisierte“ Debatte über die Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei „wieder auf nüchternen Boden“ zu stellen. Man solle der Türkei „noch in diesem Jahr reinen Wein einschenken“, forderte Senocak, immerhin seien dem Land „bestimmte Versprechungen“ gemacht worden. Ohne die Türkei werde Europa im Nahen Osten „keine Rolle spielen“ und „stärker von den USA abhängen“. Allerdings spreche „auch einiges gegen die EU-Mitgliedschaft“, so der Autor: So gehöre die Türkei „vom Kopf her“ heute noch nicht zu Europa. Senocak nannte als Beleg den „sehr zentralistischen, wenig demokratischen Kemalismus“: „Das Land ist einfach ideologisch.“ Allerdings sei es in den letzten Jahren zu rasanten Reformen gekommen – komme es nicht zu einer klaren Entscheidung über Verhandlungen, würden die Reformgegner gestärkt.

Auch Cohn-Bendit äußerte sich ambivalent zu dem Thema: „Von Istanbul bis Ankara“ sei eine Integration der Türkei in die EU „überhaupt nicht schwer vorstellbar.“ Das Problem jedoch sei „Djyarbakir“, also die kurdische Ost-Türkei, die heute noch nicht integrationsfähig sei. Beiden Seiten, der EU und der Türkei, müsse „die Schwierigkeit und die Länge des Prozesses klar sein“, so Cohn-Bendit. Es könnte auch nicht angehen, dass etwa Deutschland, wenn es um das Abschieben von kurdischen Asylbewerbern gehe, die Türkei als einen demokratischen Staat betrachte, das Land jedoch dann als undemokratisch schmähe, wenn es um die Integration in die EU gehe.

Ganz so pessimistisch wollte der sprachmächtige Spitzenkandidat dann aber doch nicht schließen. Es liege „in der zwingenden Logik Europas“, so Cohn-Bendit, noch ein drittes Wunder zu schaffen: das „Wunder vom Bosporus“. Markus Jox