Reiner Calmund dünnt aus

Durch ein 2:0 über den VfB Stuttgart darf Bayer Leverkusen weiterhin auf die Champions League hoffen. Der Manager will dennoch überflüssigen Ballast loswerden. Diesem Vorhaben könnte auch Sportdirektor Jürgen Kohler zum Opfer fallen

AUS LEVERKUSEN ERIK EGGERS

Die kolossale Fähigkeit der Musik, bei den Menschen als Agent der Erinnerung zu fungieren, wurde am Samstag in der BayArena wieder deutlich. Dort wurde nämlich um 17.10 Uhr dezibelstark jene Melodie eingespielt, die seit einem Jahrzehnt den großen europäischen Fußball in der Champions League begleitet. Nachdem Dimitar Berbatow bereits in der 63. Minute zur Führung getroffen hatte, erzielte nun Mittelfeldspieler Bernd Schneider nach einem von Butt verschossenen Foulelfmeter das 2:0 gegen den VfB Stuttgart. Weil das die Entscheidung im „Endspiel“ um den dritten Platz in der Bundesliga war, der für die Qualifikation zur Königsklasse berechtigt, erklang in diesem Moment des Jubels schon einmal die begehrteste Hymne Fußball-Europas. Ein paar Takte genügten, und die Szenen der famosen Saison 2001/2002 rauschten wieder am inneren Auge vorbei: die Sensationssiege gegen Juventus Turin und den FC Liverpool, die dramatischen Halbfinale gegen Manchester United.

Euphorie machte sich also breit nach dieser Rückrunde der Extreme: Zuletzt zeigte das Team von Klaus Augenthaler einen grandiosen Angriffsfußball, gewann von elf Spielen neun und blieb dabei ungeschlagen; in den sechs Partien davor hatte es sich in erbärmlicher Form präsentiert und lediglich einen Punkt ergattert. Natürlich freute sich deshalb die Bayer-Führungsetage. Doch von Enthusiasmus war nichts zu spüren. Zu vage ist die Aussicht auf die Champions League, als dass der Klub nun mit Millionen Mehreinnahmen kalkulieren könnte – die betriebswirtschaftliche Warnung heißt Dortmund, das zuletzt in der Qualifikation an Brügge scheiterte. Geschäftsführer Reiner Calmund & Co. dürfen lediglich mit dem Uefa-Cup rechnen. Finanzielle Stunts darf sich die Fußball GmbH des Bayer-Konzerns nicht erlauben in diesen mageren Zeiten, in denen die Mutter Arbeitsplätze abbaut. „Das wäre mit der allgemeinen Lage nicht zu vereinbaren“, so der Bayer-Sportbeauftragte Sprink.

Und so war nach dem dramatischen Saisonabschluss nicht von den sportlichen Leistungen die Rede, sondern von Personalien, die ganz eindeutig mit profanen Budgetierungen zu tun haben. Klar ist, dass der Vertrag des zuletzt starken Bastürk aus pekuniären Gründen nicht verlängert wird. Oliver Neuville machte eine ähnliche Erfahrung, Bayer verzichtete auf eine Option, weshalb der Stürmer nun nach Gladbach wechselt. Den Weltmeister Lucio, der angeblich ein Jahresgehalt von 4 Millionen Euro erhält und eine Schlüsselfigur im Bayer-Spiel ist, scheint die Vereinsführung erfolgreich zu den Bayern wegloben zu können, 10 Millionen Euro Ablöse soll der Branchenführer zahlen. Sogar Bernd Schneider wurde eine Zeit lang wie sauer Bier angeboten. Zu sehr drücken die Verträge mit den vielen bei anderen Klubs geparkten Akteuren, die, wie bereits Jermaine Jones, irgendwann nach Leverkusen zurückkehren.

Nicht nur vor diesem Hintergrund freilich sind die jüngsten Spekulationen um einen Wechsel Jürgen Kohlers zum VfB Stuttgart erklärbar. Kohler soll Nachfolger des scheidenden Trainers Felix Magath werden. VfB-Präsident Erwin Staudt sprach jedenfalls von Kohler als „einem von drei geeigneten Kandidaten“; und der Exnationalspieler, der nach eigenen Angaben „noch keinen Kontakt“ hatte zum VfB, fühlt sich offenkundig gebauchpinselt, „dass mein Name gehandelt wird“. Aber es sind eben nicht allein finanzielle Gründe, dass Bayer-Geschäftsführer Reiner Calmund bereitwillig „ein Angebot für den Jürgen“ bestätigte und ihm „keine Steine in den Weg legen“ wollte.

Zwar verdient der eigentlich bis 2008 unter Vertrag stehende Kohler rund 1,2 Millionen Euro per annum und damit so viel wie der gesamte restliche Vorstand. Aber im Grunde erwies sich der Sportdirektor Kohler als formidables Missverständnis. Selbst nach Monaten wusste niemand so recht, welche Aufgaben Kohler eigentlich wahrnehmen sollte in dem aufgeblähten Vorstandsgebilde, so dass ihn ein böser Schreiber des Kölner Stadt-Anzeigers als „bestbezahlten Linienrichter-Beschimpfer der Liga“ verhöhnte.

Nun scheint das Ende der langen Aufgabenarmut gekommen. „Man merkt ihm an, dass es ihn Richtung Rasen zieht“, so formulierte es jetzt Calmund, und Kohler bekräftigte, dass er ja nicht umsonst den Trainerschein gemacht habe. Auf jeden Fall ist bezeichnend, dass Calmund trotz der Ausdünnung der Führungsetage nichts gegen Kohlers Abwanderungsgedanken unternimmt: Ilja Kaenzig verlässt den Klub Richtung Hannover, Finanzgeschäftsführer Wolfgang Holzhäuser wirkt ab Dezember bei der DFL in Frankfurt. Als neue Namen werden in Leverkusen bereits Rune Bratseth und Oliver Bierhoff gehandelt. Ebenfalls Figuren, deren Nennung allein Erinnerungen auslöst.