Ein letztes leises Ächzen

Der TSV 1860 München verliert mit 1:3 und steigt in Liga zwei ab. Aber das ist nicht wirklich schlimm. Viel schlimmer ist, dass es das letzte Spiel auf dem legendären Gladbacher Bökelberg war

VOM BÖKELBERG BERND MÜLLENDER

Viele hatten so einen milden Schimmer im Gesicht an diesem richtig schönen Nachmittag. Wehmütig waren die Menschen, melancholisch und stimmungsreich. Die Feier würdig inszeniert. Live wurde die neue Schnulze „Bye-Bye Bökelberg“ gegeben („Dieser Berg ist einfach geil“), ein Dutzend Schornsteinfeger salutierte dazu, und in der Nordkurve reckten sie kleine schwarze Särge samt grünem Kreuz hoch und viele Plakate, auf denen immer etwas von „Mythos“ stand. Zur Beerdigung des „Tempels der Bundesliga“ verortete der Stadionsprecher dann „bei allen Pipi in den Augen“.

Es war das 632. und letzte Bundesligaspiel im Stadion mit eigener Buch-Biografie („Mythos Bökelberg“). Eine Begegnung, die für die Heimelf sportlich bedeutungslos war, in der sich der Gast von 1860 München aber noch hätte retten können. Indes zeigten die handzahmen Bayern-Löwen schnell, dass sie sich solidarisch mit verabschieden wollten. Eine Elf ohne Feuer und Biss, ohne Leidenschaft, die nicht mehr an sich glaubte, wo einer regelmäßig die Laufwege des anderen fehlvermutete. So hatte die Hoffnung genau 80 Sekunden gehalten, von der Führung per Strafstoß nach zweifelhaftem Foulchen an Schroth bis zum Ausgleich, den der alte Stadionsprecher der Mythosära umjubelt falsch verkünden durfte. Nach drei Kopfballtoren war Schluss für die Münchner. 1:3. Bye-bye 1860.

Die Zuschauer feierten derweil ausdauernd das Stadion, sich selbst, die Stadt und die Mannschaft. Und nach 70 Minuten Münchens Francis Kioyo bei dessen Einwechslung mit prasselndem Applaus und Sprechchören: Der Kameruner hatte mit seinem kläglich verschossenen Elfer in der Vorwoche die Borussia trotz deren Niederlage in Dortmund gerettet.

Alles passte „wie im Drehbuch geschrieben“, so der scheidende schweizer Torwart Jörg Stiel, der „diese alte Arena ein ganz besonderes Fußballstadion“ nannte. Angreifer Arie van Lent gab ein letztes Tor („davon habe ich die ganze Zeit geträumt“), dann durfte noch Torwarttrainer Uwe Kamps (39) frenetisch gefeiert die letzten neun Minuten in den Kasten („herrlich, einfach herrlich“) und sogar einen Ball fangen und einen fausten. Später wurde Leverkusens Oliver Neuville als Neuzugang gemeldet.

1860 geht derweil als Scherbenhaufen in Liga 2. Es ist der vierte Abstieg nach 1970, 1978 und 1981. Präsident Auer erklärte sich „innerlich aufgewühlt“. Die schweigend davonschleichenden Spieler haben meist keinen Vertrag für das Unterhaus, im Dutzend wird das Personal schon anderen Klubs angeboten. Ob sie zur Grünwalder Straße umziehen, so was wie der Bökelberg des Südens, ist noch unklar, genauso wie das Angebot eines Ölhändlers, „mit Hirn und Verstand Geld reinzupumpen“.

Der gerade verpflichtete Trainer Gerald Vanenburg wollte unter der Woche noch lauter niederländische Landsleute anheuern und „Meister werden“. Nach dem Spiel, das er mit manch hilflosem Armrudern begleitet hatte, sah sich Vanenburg allerdings „nicht in der Lage, in diesem Moment“ über seine Zukunft zu reden. Immerhin anderntags war er das – und gab seinen Rücktrit bekannt, bevor man ihn vermutlich ohnehin rausgeschmissen hätte. Derweil hat bereits Extrainer Werner Lorant seine Wiedergängerschaft angedroht.

Dann lieber ein Kultstadion dichtmachen. Die großen Stars von einst wie Laumen, Köppel, Netzer und Heynckes („Der Geist des Bökelberg lässt sich nicht verpflanzen“) werden weiter von ihrer Herzensangelegenheit sprechen, von Liebe und Leidenschaft, von Legende, Tränen und den fünf Meistertiteln der großen Fohlenelf hier in den 70ern. „Bei jedem Schritt hört man ein leises Ächzen“, erlauschte diese Woche noch ein Lokalreporter.

Der Mythos wird also eingemottet. Freuen werden sich die Anwohner über die ungewohnte Ruhe. In zwei Jahren soll auf der alten Kiesgrube mit Stadionloch ein Neubaugebiet fertig sein. Dann werden sich Menschen auf Vogts’schem Terriergeläuf schlafen legen, neben dem einst gebrochenen Pfosten (3. 4. 1971) vielleicht Holz hacken und ein Stück weiter Dosenbier trinken, wo einst Inter Mailands Schauspielgrande Roberto Boninsegna (20. 10. 1971) von einer Büchse am Kopf getroffen und das legendäre 7:1 annulliert wurde.

Der Tribünennachbar sagte, er sei „irgendwie schon traurig, aber irgendwie auch nicht“, weil er sich „auf das neue Stadion so freut“. 54.000 Menschen wird die 80-Millionen-Schüssel am Stadtrand fassen. Der Nachbar, der ein letztes Mal andächtig die Hymne mitsang („Und ich schwöre Stein und Bein – für die Elf vom Niederrhein“) hieß Christian und nahm „nach bestimmt schon sechs oder sieben Spielen hier“ seinen Abschied. Christian ist 6. Ein Fohlen unter den Fohlenfans.