Kein Griff in die Mottenkiste

Körper-Verschraubungen und Kämpfe gegen die Schwerkraft: Choreographie-Wettbewerb Dom Pérignon des Hamburg Balletts bot durchweg technisch hohes Niveau. Hauptpreis für Marco Goecke

von MARGA WOLFF

Was tun, wenn über die Zukunft des Balletts entschieden werden soll, sich die angetretenen Hoffnungsträger aber bereits einhellig und konsequent von der klassischen Tanzkunst verabschiedet haben? Ratlosigkeit herrschte bei den diesjährigen Hamburger Ballett-Tagen dennoch nicht. Denn mit Tanz auf technisch höchstem Niveau hatten die jungen Choreographen bei diesem dritten Prix Dom Pérignon, veranstaltet vom Hamburg Ballett zusammen mit der französischen Champagnerfirma, immerhin den Griff in ästhetische Mottenkisten erfreulicherweise vermieden. In den vorangehenden beiden Wettbewerben war der noch erschreckend häufig vorgekommen, vor allem bei jenen hilflosen, choreographischen Versuchsanordnungen mit neoklassischem Tanz auf Spitze.

Diesmal aber bot der choreographische Nachwuchswettbewerb einen Abend postmoderner, stilistisch sich weitgehend angleichender Bewegungsvirtuosen. Wie die Körper sich verschraubten und umeinander glitten, sich kühn gegen die Schwerkraft in Schwebezustände stemmten, um sogleich wieder erdenschwer aufzuschlagen, hatten es einige der Beiträge offensichtlich darauf angelegt, der Kampfkunst der Leinwandhelden eines Ang Lee oder Zhang Yimou deutlich Konkurrenz zu machen.

Seltsam nur, wie einerseits faszinierend und gleichzeitig kalt und glatt dieses formvollendete, präzise kalkulierte Tanzdesign, tadellos ausgeführt von Tänzern aus Fleisch und Blut, auf der Staatsopernbühne mitunter wirkte. Die Gemüter der Jury erhitzte es dennoch. Heftige Diskussionen habe es gegeben, entschuldigte sich John Neumeier beim wartenden Publikum, das mit ungeduldigem Klatschen die Bekanntgabe der Sieger einforderte. Was kaum wundert, wenn eine Gralshüterin des klassischen Erbes wie die einstige Starballerina Natalia Makarova inmitten von Ballettdirektoren europäischer Compagnien, die täglich zwischen Erneuerung ihrer Kunst, Publikumsgeschmack und finanzieller Not jonglieren müssen, entscheiden soll.

Die Zuschauer im gut gefüllten Opernhaus indessen hatten mit dem offenkundigen Traditionsverlust weniger Probleme und machten ihren Star des Abends aus: Yukichi Hattori, der junge japanische Ausnahmetänzer und John Neumeiers derzeitige Muse, mit dem selbst auf Hamburgs Ballettbühne der Breakdance Einzug gehalten hat. Er bekam für sein Solo Zero den Publikumspreis. Allerdings ist dieses Stück erheblich schwächer ausgefallen als das Solo Piece, für das er 2001 den Nachwuchspreis bekommen hatte.

Am Ende wurden gar vier Preise vergeben, unter sieben aus insgesamt 45 Bewerbungen, ausgewählten und präsentierten Choreographien. Jérémie Bélingard von der Pariser Oper – von seiner Tanzpartnerin im Stich gelassen, hatte er kurzfristig auf ein Solo zurückgreifen müssen –, erhielt für das arg gefühlige, doch musikalisch interessante Stück Lebenslinie einen undotierten Nachwuchspreis. Ein weiterer Nachwuchspreis ging an den freien Choreographen Hugo Fanari aus Finnland für sein im barocken Kostümbild zumindest augenscheinlich an Tradition erinnerndes Gruppenstück E pur si muove (Und sie bewegt sich doch).

Schade allerdings, dass Mirko Hecktors Gott der Ängste leer ausging. Der Tänzer vom Ballet de Monte Carlo hatte mit seiner großartigen Partnerin Geneviève van Quaquebeke ein tief berührendes, fragiles Tanzgedicht gezeigt. Das einzige Stück unter all den ehrgeizig aktionsgetriebenen Arbeiten dieses Abends, das so etwas wie Seele zeigte. Bei dem Gewinner des mit 8000 Euro dotierten Hauptpreises Marco Goecke, einem freien Choreographen aus Stuttgart, fragte man sich da, warum er sich mit Blushing nicht gleich bei MTV beworben hat. Der 31-Jährige erarbeitete mit Tänzern des Stuttgarter Balletts diese düster skurrile, von abgründigem Humor durchdrungene Szenencollage. Immer wieder setzen seine Protagonisten den Pistolenfinger an die eigene Schläfe – und drücken mehrmals ab.

Wie viele Leben die Choreografie haben wird, entscheidet sich spätestens in der übernächsten Spielzeit mit der Einstudierung mit dem Hamburg Ballett. Und zum nächsten Prix Dom Pérignon 2005 wird Goecke in Hamburg dann ein neues Stück vorstellen. Man darf gespannt sein, wie er sich entwickelt.