Den Möwen nach den Augen schauen

Die niederländische Regisseurin Alize Zandwijk, die am Hamburger Thalia Theater Tschechows frühes Drama „Iwanow“ inszeniert, ereifert sich über Passivität und selbst verschuldete Flieg-Hemmungen. Ein Porträt

Zahme Vögel singen von der Freiheit, wilde Vögel fliegen.“ Und gestatten sich nur dann und wann einen Ausbruch, solang es nicht gefährlich wird. Und Alize Zandwijk? Kann sie wirklich fliegen, oder schaut auch sie nur den Möwen nach, die über der Alster kreisen? Ist die silberne Feder, die die niederländische Regisseurin überm himmelblauen Pullover trägt, Insignium des zur Kunst stilisierten, de facto aufgegebenen Fliegens? Immerhin ist die 1961 in Hellendoorn geborene Zandwijk seit 1998 Co-Leiterin des Rotterdamer ro theaters. Ein relativ gesichertes Dasein, aus dem Ausflüge zum Theaterfestival Edinburgh oder ans Hamburger Thalia Theater, wo sie derzeit Tschechows Iwanow probt, nur kurze Fluchten darstellen.

Es ist ihre erste Arbeit mit deutschen Schauspielern. „Man muss sich langsam aneinander gewöhnen“, sagt sie, die gut Deutsch spricht und bestimmt kein Kommunikationsproblem hat. Eine fröhliche, gesprächige Gestalt sitzt da vielmehr im gleißend weißen Mittelrangfoyer, die weder resigniert noch gar lethargisch wirkt.

Den Iwanow allerdings hat sie gewählt, „um zu zeigen, in welcher Lethargie die meisten von uns verharren. Iwanow ist der Prototyp eines Menschen, der nicht weiß, wie er sein Leben in den Griff bekommen, wie er herauskommen soll.“ Woraus? „Aus der inneren Leere. Aus der Machtlosigkeit seinen Gefühlen gegenüber, die kommen und gehen. Denn dahinter liegt doch die Frage, wer bin ich als Individuum? Lebe ich – oder werde ich gelebt?“

Eine Frage, auf die Iwanow keine Antwort findet. „Er hat seine Visionen verloren. Was ihn an Sascha, die erst seine Geliebte wird und ihn dann heiraten will, fasziniert: dass sie noch glauben kann, an die Beständigkeit der Liebe zum Beispiel.“ Zandwijk findet das wunderbar. Hat kein Verständnis für die Frage, ob die Frau als Energie-Tankstelle und Erretterin des Mannes geschaffen sei. „Sascha will Iwanow ins Leben zurückführen. Aber sie tut das auch für sich selbst, lebt in einem Dorf und will da raus. Was macht es da schon, dass sie ihrem Geliebten alles opfern will?“

Alize Zandwijk wirkt kein bisschen unterjocht, auch nicht naiv-romantisch, sondern eher pragmatisch-zupackend – und doch gestattet sie sich in solchen Momenten, von erhabenen Gefühlen zu träumen. Emanzipatorische Gedanken haben da keinen Platz. Sie empfindet Sascha im Gegenteil als ideale Figur, die ihre Visionen bewahrt hat – „allerdings, im vierten Akt verliert sich das. Da ist sie ernüchtert, auch bezüglich ihrer eigenen Liebesfähigkeit.“ Warum eigentlich? „Weil man Urzustände nicht bewahren kann. Weil man sich nicht bemüht, sie zu bewahren. Weil man zu passiv ist.“ Und schon ist sie bei der Politik angekommen. „Das ist wie beim Irak-Krieg: Warum gibt es keine Demonstrationen, warum boykottieren wir keine US-Waren?“

Eine langsam wachsende Wut deutet sich da hinter dem freundlich-verbindlichen Gesprächsduktus an, und man kann sehen, die ist nicht gespielt. „Aber mich erbost auch die Passivität der Menschen im Allgemeinen: Sie tun nichts, um aus krank und müde machenden Gewohnheiten herauszukommen.“ Eindringlichstes Beispiel sei ihr eigener Vater: „Er ist in seiner zweiten Ehe nie wieder glücklich geworden. Er sitzt so resigniert da wie Iwanow, und ich möchte beiden zurufen: Tu etwas!“ Aber was? Das weiß Alize Zandwijk auch nicht. „Sag du was“, animiert sie ihre Assistentin – und dann sagt sie es doch: dass es die Ersatzhandlungen sind, die die Menschen von Veränderungen abhalten. Dass sie sich mit dem Herumbasteln am Detail zufrieden geben. Dass man sich über den fehlenden Mut hinweglügen kann, den die Veränderung familiärer Konstellationen erfordern würde.

„Nein, da stehen die Leute lieber auf dem Segelflugplatz und schauen anderen beim Fliegen zu – wie ich auch. Denn ganz tief drinnen, da sitzt neben der Sehnsucht nach Freiheit die genauso große Angst davor, dass mich das etwas kosten könnte.“

PETRA SCHELLEN

Premiere: 29.5., 20 Uhr, Thalia Theater, Hamburg