Immerzu, immerzu

Gleich im Doppelpack brachten Staatsoper und Komische Oper zwei Klassiker der Opern-Moderne heraus. Die Musik von Alban Berg erwies sich dabei, dümmlichen Gags zum Trotz, als stärkste Kraft

VON NIKLAS HABLÜTZEL

Hans Werner Henze, 78 Jahre alt, ließ es sich nicht nehmen, nach Berlin zu kommen, um den Schlussapplaus seiner Oper „Elegie für junge Liebende“ an der Staatsoper entgegenzunehmen. Aller Opernreform und dem Anliegen der Koordination zum Trotz lud die Komische Oper zu ihrer Premiere des „Wozzek“, den es zuvor noch nie an diesem Haus zu sehen gab. Ein unfreiwilliger Wettbewerb um das Erbe der Moderne: Uralt, wie aus einer fernen Vergangenheit erzählt, klang nun plötzlich Henzes Kammerdrama um einen größenwahnsinnigen Dichter, vollkommen gegenwärtig und noch immer aufwühlend durch die innere Logik der musikalischen Sprache dagegen Bergs 40 Jahre ältere Oper nach Büchners Drama.

Die Rede ist von der Musik, nicht von den Inszenierungen. Die Komische Oper hat den jungen Briten Richard Jones damit beauftragt, der weder mit Büchner noch mit Berg viel anzufangen weiß. Wozzek scheint ihm hauptsächlich an den Bohnen zu leiden, die er auf Befehl des Doktors in sich hineinfressen muss, und Bohnen von heute, so lernen wir zu unserer allergrößten Überraschung, sind Bohnen in Dosen aus Weißblech. Keines der 15 Szenenbilder kommt ohne diese Dosen und den dazugehörigen Müllcontainer aus Plastik aus. Das freie Feld, auf dem Wozzek seine inneren Gespenster sieht, ist eine Dosenabfüllanlage geworden, der Rest der Welt besteht aus Ahorn-Imitat vom Baumarkt: Das ist natürlich schrecklich anzuschauen, verhindert aber jeden seelischen Tiefgang.

Wo der Abgrund sein soll, vor dem Wozzeck schwindelt, ist deswegen allein zu hören. Es beginnt mit den ersten Takten. Wunderbar wohlklingend konzertierende Holzbläser exponieren die thematischen Kerne der symphonischen Variationen, in die Berg Büchners Drama übersetzt hat. Allein darauf verlässt sich der Dirigent Manfred Honeck. Ohne Pause spielt er das Werk durch, Orchester und Ensemble auf der Bühne lassen sich mitreißen in diesem Taumel. „Immerzu, immerzu“ gräbt sich der wirklich teuflisch gut gespielte Walzer der Kneipenszene ins Gehör, und folgerichtig türmt er sich im nächsten Akt zur Symphonie des Mordes auf.

Moral und Wissenschaft sind dann längst zerbrochen in den satirisch sich überschlagenden Arienfragmenten des Doktors und des Hauptmanns, aus dem Andreas Conrad mit schneidendem Tenor sogar eine aberwitzig-bösartige Hauptfigur macht. Übrig bleiben das sexuelle Unglück der Marie, dessen gelegentlich volksliedhafter Ton Gun-Brit Barkmin vielleicht zu sehr ins Schrille wendet, und die stille, wortkarge Wut des Wozzek, die nur in der Einsamkeit verwirrter Monologe zur vollen Klagemelodie ausklingen kann. Der Gastbariton Garry Magee singt sie mit wenig Volumen, dafür aber großer Musikalität, und sie alle lassen die dümmliche Langeweile des Bühnenbilds vergessen.

Ginge es um Sport, stünde es unentschieden zwischen der Behrenstraße und Unter den Linden. Zwar ist die Erkenntnis nicht neu, dass jene Moderne, der beide Werke angehören, heute ein ausschließlich historischer Begriff ist. Dass es aber so offensichtlich hörbar ist, überrascht dennoch.

Denn die Staatsoper lässt es an nichts fehlen, um den Longseller, den Henze selber gerne inszeniert hat, prachtvoll auf die Bühne zu bringen. Weiße Neonröhren, die spektakulär aufblitzen können, zeichnen am Bühnenportal die Umrisse eines virtuellen Matterhorns – „Hammerhorn“ heißt der Schicksalsberg bei Henze und seinen Librettisten Wystan H. Auden und Chester S. Kallman. Der Dichter Gregor Mittenhofer residiert mit Gräfin, Musen und Leibarzt im Designerloft, das ebenso gut der Showroom von VW sein könnte. Das ist richtig fies, und Andreas Schmidt singt den Dichter mit derart souveräner Allmacht, dass man ihn wirklich keine Sekunde lang mögen kann. So soll es sein, fand der politische Linke Henze, wenn auch nicht sofort, aber doch sehr bald, als er den darin verkörperten Geniekult endgültig als bürgerliche Ideologie entlarvt hatte.

Wie klingt das heute? Kammermusikalisch raffiniert, mal satirisch, mal sentimental, mit Gitarre hier, Harfe dort, mit apartem Blech fast überall. Auch Philippe Jordan am Pult lässt es an nichts fehlen, sodass jeden Augenblick zu hören ist, worüber sich vor sehr langer Zeit im sehr fernen Darmstadt die Leute schier geprügelt haben. Seltsamerweise über diese mit voller Absicht erfolgreich illustrierende Musik, nicht über das Thema des unmoralischen Genies. Der Regisseur Christian Pade hat gar nicht erst versucht, der historischen Aufregung um Henze irgendeinen aktuellen Zug abzugewinnen, und so bleibt es Caroline Stein in der Rolle der irren Hilda Mack überlassen, den Abend vor der puren Langeweile zu retten. Unbekümmert um alle Sinnfragen macht sie aus Henzes Parodie der Wahnsinnsarie aus Lucia di Lammermoor eine überwältigend komische Kabarettnummer.

„Wozzek“, Komische Oper, 26./31. Mai. „Elegie für junge Liebende“, Staatsoper, 26./28. Mai