BERNHARD PÖTTER über KINDER
: Ab jetzt wird gerecht geschummelt

Kaum werden die Kinder selbstständiger, sollen wir Eltern in Ruhe abtreten. Aber nicht mit mir!

Unangenehme Wahrheiten erfährt man heute nicht mehr durch den Herold des Fürsten. Nicht mehr durch den Pfarrer auf der Kanzel. Und auch nicht mehr von Eva Herman aus der „Tagesschau“. Unangenehme Wahrheiten über sich selbst erfährt man beim Kinderarzt.

„Und jetzt schau dir mal diese Bilder an, Jonas“, sagt die freundliche Sprechstundenhilfe. Sie klappt ein Buch auf, in dem in großen Kreisen viele kleine verschiedenfarbige Punkte zu sehen sind. „Was siehst du da?“

Da ist nichts.

„Ein Vogel“, sagt Jonas. „Genau“, sagt die Sprechstundenhilfe. „Und hier?“

Wieder nichts.

„Ein Auto.“ – „Richtig.“

„Und hier?“

Gar nichts! Rosa Punkte!

„Eine Blume“, sagt mein adleräugiger Sohn.

„Sehr gut“, sagt die Fee mit dem Sehtest zu mir. „Ihr Sohn kann alle Farben sehen.“

Er schon.

Wir sitzen bei der „U9“. Das ist nicht die U-Bahn-Linie zwischen Rathaus Steglitz und Osloer Straße. Sondern die neunte Reihenuntersuchung an einem Fünfjährigen. Die gute Nachricht: Jonas braucht keine Brille, um zu gucken. Die schlechte: Eigentlich bräuchte sein Vater noch eine. Um meine Rot-Grün-Schwäche auszugleichen. Und das ist jetzt nicht politisch gemeint.

„So fängt es an“, sagt Anna zu Hause. „Die Kinder lernen jetzt Dinge, die wir nie gekonnt haben.“ Zum Beispiel? Tauchen wie ein Biber. Memory spielen. Skateboard fahren. Erdnussbutter essen. Die nächste Generation pocht heftig an die Türen der Macht. Bald machen sie ihren Führerschein, lernen Polnisch und kennen die wirklich angesagten Kneipen. Sind wir bereits Elektroschrott wie die alten Computer? Bei denen verdoppelt sich alle 18 Monate die Rechnerleistung und damit kommt eine neue Generation ans Netz. Werden wir bereits jetzt von unseren Nachkommen an die Seite gedrängt?

Die Biologie spricht dafür. Den Zenit unserer körperlichen Leistungsfähigkeit haben wir mit 25 Jahren überschritten. Seit 18 Jahren, seit meinem 20.Geburtstag, verschwinden jeden Tag 10.000 meiner Hirnzellen. Hängt es mit beginnender Demenz zusammen, dass wir erst zu Eltern werden, wenn wir uns auf dem absteigenden Ast befinden? Die morschen Knochen werden dann noch einmal ein paar Jahre massiv beansprucht, ehe wir ausgelaugt zu Boden sinken. Eine Armee in Sandalen mit Klettverschluss trampelt uns in den Staub der Geschichte. Wir haben unsere biologische und historische Mission erfüllt: für das Leben unserer Kinder und das Überleben der Spezies gesorgt. Jetzt haben wir in Ruhe abzutreten.

Aber nicht mit mir. Schließlich wehren wir uns schon lange gegen den akuten Jugendwahn. Warum gelten Menschen ab 40 als schwer vermittelbar? Wieso beschäftigt jeder zweite Betrieb keine Angestellten über 50? Nur, um für diese Hosenscheißer Platz zu machen?

Nein – kampflos werden wir unsere Positionen als Alphatiere nicht räumen. Soll der junge Hirsch den alten Pascha erst einmal von seinem Rudel verjagen! Jetzt werden im Kampf der Generationen andere Saiten aufgezogen: Seit gestern trete ich morgens voll in die Pedale – Schluss damit, dass ich Jonas immer das Fahrradrennen zum Kindergarten gewinnen lasse. Beim Kartenspielen beginne ich genauso zu schummeln wir er – das absichtliche Verlieren war gestern. Und wer sagt eigentlich, dass bei den morgendlichen Ringkämpfen auf dem Bett immer der Sohn als Sieger vom Platz gehen muss? Soll er doch mit einer verrenkten Schulter liegen bleiben!

Wie es die Fairness unter Gentlemen erfordert, habe ich ihm die Änderung der Spielregeln natürlich offiziell mitgeteilt. „Jonas, ab jetzt gibt es keine Ausnahmen mehr“, sage ich, als er mich morgens im Schwitzkasten hält. „Ich sehe nicht ein, dass du immer gewinnst.“

„Aber Papa“, sagt dieser Emporkömmling, „ich kann eben Sachen, die du nie kannst.“

„Ach ja? Was denn?“

„Meinen Fuß hinter den Kopf stecken. Und einen halben Meter wachsen.“

Fragen zu Ringkämpfen? kolumne@taz.de Morgen: Barbara Bollwahn ROTKÄPPCHEN