Prügeln für das Selbstbewusstsein

Wenige Stunden nach den Schüssen an einer Coburger Schule stellt das BKA eine Studie über Jugendgewalt vor: Gewalt stiftet Identität. Und zwar zu 90 Prozent männliche. Einzeltaten wie die von Coburg lassen sich damit kaum erklären, so die Forscher

von CHRISTIAN FÜLLER

Die allererste, die naheliegendste Frage zur Schulkriminalität konnte Friedrich Lösel leider nicht beantworten: Wie hätte man der Tat in Coburg vorbeugen können, wo ein Schüler gestern Früh eine Lehrerin anschoss und sich dann selbst umbrachte? (siehe unten). „Gravierende Einzelfälle, wie jener in Erfurt“, sagt dazu der Kriminologe und Psychologe Friedrich Lösel, „kann man lediglich im Nachhinein verstehen.“

Als hätte der 16-jährige Täter gewusst, was wenige Stunden später beim Bundeskriminalamt (BKA) in Wiesbaden Thema sein sollte, verkompliziert seine Tat die Lage weiter. Denn der Realschüler passt in keines der gängigen Erklärungsmuster, die bei Gewalt in der Schule Anwendung finden: Er ist kein Amokläufer – und auch keiner jener übertemperierten, gewalttätigen Jungs, die das Thema Gewalt in der Schule zu 90 Prozent für sich reserviert haben.

Was Friedrich Lösel und sein Mitautor Thomas Bliesener für das BKA herausgefunden haben, klingt wenig spektakulär – und ist doch aufschlussreich: Die Schule ist nicht der bevorzugte Schauplatz kriminell agierender Teens. Es geht bei Gewalt meist nicht um Schule, sondern um Psyche. Andere anzumachen, herumzustänkern, Schlägereien zu suchen oder zu klauen, das kann Identität stiften: „Die Jugendlichen verhalten sich temporär delinquent“, meinen die Forscher. Weil es ihnen hilft, sich von Eltern und Autoritäten zu lösen, weil es den Selbstwert bestätigt – oder weil es eine „Reifungslücke“ schließt. Will sagen: Teens sind halt körperlich reif – haben aber (in Industrieländern, wie die Autoren betonen) weder sozialen Status noch Verantwortung.

Für rund fünf Prozent der Schüler wird es in dieser Phase wichtig, regelmäßig körperliche Aggressionen auszuleben oder andere zu drangsalieren. 30 Prozent der befragten Jungen gaben an, in den letzten sechs Monaten einen anderen geschlagen oder getreten zu haben. Diese Prozentzahlen haben Lösel und Bliesener in einer umfänglichen Sozialforschung ermittelt. Sie interviewten 1.163 Schüler an 7. und 8. Klassen in Erlangen.

Hat Gewalt demnach nichts mit Schule zu tun? Doch. Ein bestimmtes Klima im Klassenzimmer begünstigt den Ausbruch von Gewalttaten. „Jugendliche, die mehr Anonymität und mehr Leistungsdruck im Schulalltag wahrnahmen, zeigten mehr Aggressionen“, berichten die Forscher. Sie haben herausgefunden, dass die Situation unter den Schülern wichtiger ist als die schulischen Faktoren.

Aber: „Aggressive und delinquente Schüler hatten schlechtere Noten in den Leistungsfächern, mussten öfter eine Klasse wiederholen und schwänzten mehr die Schule als andere.“ Noch wichtiger als Schule ist etwas anderes: Die Familie. Kinder werden viel häufiger zu „Bullies“, wie die Autoren ihre Risikogruppe nennen, wenn sie zu Hause weniger emotionale Wärme, mehr Gewalt, mehr Strenge und mehr Inkonsistenz in der Erziehung erleben.

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