Keiner muss gewinnen

Ein kleines Nebenkapitel im ewigen Wettlauf der Bilder mit den Texten: Ein Abend im Thalia Theater zeigt, dass Filme vielleicht dann am besten sind, wenn es ihnen die Sprache verschlägt

von Daniel Wiese

Das Schlimmste am Ins-Kino-Gehen sind die Leute, die danach sofort über den Film reden wollen. Gerade sind Menschen gestorben, wurde Troja zerstört, aber diese Leute haben sofort eine Meinung zu allem. Besonders ätzend ist es bei Literaturverfilmungen. Man kann nämlich darauf wetten, dass sie die verfilmte Literatur gelesen haben, und nach dem Kino sagen sie: „Der Film ist ja ganz gut, aber das Buch ist besser.“

Das Buch ist besser, dieser Satz drückt das Trauma der Literaturverfilmung aus. Verdichtet man den Stoff eines durchschnittlichen Romans auf die Länge eines Drehbuchs, fällt naturgemäß einiges heraus, und genau das wird den Filmen dann vorgeworfen. Trotzdem haben sich einige von ihnen so ins Bewusstsein eingegraben, dass die literarische Vorlage dagegen leicht verblasst ist. Die Krimis von Raymond Chandler sind großartig, aber sein cooler Privatdetektiv Philip Marlowe hat für immer und ewig das Gesicht von Humphrey Bogart (obwohl Bogart nur ein einziges Mal Philip Marlowe spielte). Ähnlich verhält es sich mit den Verfilmungen von Doktor Schiwago oder Mephisto: Der Film tendiert in diesen Fällen dazu, das Buch zu ersetzen.

Bei den Literaturverfilmungen, die morgen im Nachtasyl des Thalia Theaters gezeigt werden, besteht die Gefahr der Verdrängung allerdings weniger, dazu sind die Kurzgeschichten und Gedichte einfach nicht prominent genug. Einmal ist es sogar ein Chanson, es stammt von Boris Vian, dem Pop-Beauftragten des Pariser Existenzialismus. Im Film hört man Vian singen, dazu sieht man ein älteres Ehepaar bei seinen alltäglichen, leicht ins Surreale gekippten Verrichtungen, die darin kulminieren, dass sich der Mann beim Rasieren ein Ohr abschneidet. In der letzten Einstellung sieht man das Ohr friedlich und weiß auf einem Kopfkissen liegen.

Was das alles soll, sagen die Bilder nicht. Vian selbst erklärt es mit seinem Lied, in dem es darum geht, wie die Liebe heruntergekommen ist. „Komm und gib mir einen Kuss / dafür geb‘ ich dir einen Kühlschrank“, singt Vian. Das alte Ehepaar im Film scheint einen eines Besseren zu belehren, bis man merkt, dass in der Küche ein neuer Kühlschrank steht.

Die Kurzfilme im Thalia eignen sich gut, um die verschiedenen Literaturverfilmungsstrategien zu studieren. Während in Claudio Pazienzas Vian-Film Text und Bilder eigenständig nebeneinander herlaufen, wird in Horseshoe, einem Film von David Lodge nach einem Gedicht von Charles Bukowski, der Text aus dem Off gesprochen. Ein „Horseshoe“ ist das Ding, das man beim Zahnarzt in den Mund bekommt, wenn er einen Abdruck von den Zähnen machen will. Genau das passiert im Film einem alten Mann, nur dass das Ding nie mehr aus seinem Mund herausgenommen wird. Auf ewig scheint er im Zahnarztstuhl festzusitzen, während er nach draußen blickt und sein Leben an sich vorüberziehen lässt.

Es ist dieser Moment des Umkippens von Situationen, die sich im Film darstellen lassen wie nirgendwo sonst. In Keine besonderen Vorkommnisse von Jürgen Schönhoff sitzt ein dicker österreichischer Zollbeamter ganz allein in seinem Wachhäuschen und trägt den Satz „Keine besonderen Vorkommnisse“ in ein Buch ein, in dem seitenweise nur dieser eine Satz steht. Es ist Nacht, der Mann schwitzt, und die besonderen Vorkommnisse brechen dann doch über ihn herein. Und sei es in Gestalt dicker, fetter Nachtfalter.

In Keine besonderen Vorkommnisse funktioniert der verfilmte Text des Wiener Aktionisten Günter Brus wie eine Regieanweisung, obwohl oder gerade weil kein einziges Wort gesprochen wird. „Am interessantesten werden Literaturverfilmungen da, wo der Text verschwindet“, meint die junge Hamburger Schriftstellerin Birgit Utz, die das Programm zusammengestellt hat. Am weitesten geht in dieser Beziehung vielleicht Kinder auf der Landstraße des polnischen Regisseurs Laurin Federlein. Die gleichnamige Erzählung von Franz Kafka gibt bei ihm nur das Setting ab für alptraumhafte Bilder, die von einer verlorenen Kindheit in einer verlorenen Landschaft künden.

Die Linien, die vom Text zum Bild und zurücklaufen, kann man im Thalia in aller Ruhe verfolgen – die verfilmten Texte werden von Schaupielern des Theaters auch gelesen.

Morgen, 20.30 Uhr, Nachtasyl im Thalia Theater