Kinder ohne Hilfe

Studie belegt: Die Hälfte aller psychisch kranken Kinder ist unversorgt. In Bergedorf und Harburg kommen 1,6 Therapeuten auf 10.000 Kinder

Laute Aggressivität führt schneller zu einer Behandlung als leise Vereinsamung

von KAIJA KUTTER

Hamburg hat viel zu wenige Kindertherapeuten, darauf weist der Präsident der Hamburger Psychotherapeutenkammer, Rainer Richter, hin. Die Kammer hatte die Gesundheitsforscherin Maria Albota beauftragt, das Angebot an Helfern mit dem Bedarf der Stadt zu vergleichen. Ihr Fazit: Hamburgweit liegt die Versorgung von Kindern mit Therapeuten in einem Verhältnis von vier zu 10.000 deutlich unter dem der Erwachsenen mit sechs zu 10.000. Besonders schlecht ist die Lage aber in den kinderreichen Bezirken Bergedorf, Harburg und Wandsbek. Hier kommen gar nur 1,6 Therapeuten auf 10.000 Kinder.

Die Folge sind weite Wege und lange Wartezeiten von bis zu einem Jahr. Albota nennt zwei Fallgruppen: Demnach leiden 22.000 Hamburger Kinder an einer Störung, die in jedem Fall behandlungsbedürftig ist, aber nur 53 Prozent von ihnen sind in Behandlung. Insgesamt 50.000 Kinder haben „psychische Auffälligkeiten“, die nicht in jedem Fall therapiebedürftig sind, aber doch einer diagnostischen Abklärung bedürfen. Auch von dieser Gruppe ist laut Richter die Hälfte unversorgt.

„Der überwiegende Teil der Kinder“, so die Kammer, werde zudem nur von Psychiatern behandelt, die ihre Patienten lediglich einmal im Quartal sehen. Die Kinder und Jugendlichen erhielten dann meist nur Psychopharmaka oder eine Beschäftigungstherapie, was, so Richter, nur „im Einzelfall vertretbar“ sei.

Die Unterversorgung der Kinder ist seiner Ansicht nach auch ökonomisch unsinng. Ließen sich Störungen bei Kindern noch relativ schnell beheben, würden sie – unbehandelt – im Erwachsenenalter chronisch.

Die Grenze zu normalen Entwicklungsstörungen sei „fließend“, so Richter: „Wenn Eltern das Gefühl haben, Probleme mit ihren Kindern nicht mehr selbst lösen zu können, ist das ein erstes Indiz, dass Hilfe von außen nötig ist.“ Dabei führten „laute“ Auffälligkeiten wie Aggressivität schneller zu einer Behandlung als „leise“ Anzeichen wie Vereinsamung.

„Ein therapeutisches Hilfsangebot für Kinder gehört zu einer humanen Gesellschaft einfach dazu“, erklärt die stellvertretende Kammerpräsidentin Petra Rupp. Deshalb müssten mindestens 25 zusätzliche Kindertherapeuten zugelassen werden. Dies müsste der „Zulassungsausschuss“ entscheiden, der aus Krankenkassen und Kassenärztlicher Vereinigung Hamburg (KVH) zusammengesetzt ist. KVH-Geschäftsführer Walter Plassmann sieht dafür allerdings keine Chance, denn Hamburg gelte als „überversorgt“. Ausschlaggebend sei dafür das Psychotherapeutengesetz, und das macht zwischen Erwachsenen und Kindern keinen Unterschied.