Warum Moses Hörner hat

Münsteraner Bibelforscher sind den Geheimnissen der neutestamentlichen Handschriften auf der Spur. In wahrer Detektivarbeit fügen die weltweit führenden Forscher winzige Papyrusschnitzel der jahrtausendalten Überlieferung zusammen

aus MÜNSTER HOLGER ELFES

Textkritik ist für Theologiestudenten eine der weniger angenehmen Übungen. Nötig ist sie trotzdem, denn wer die Bibel erforscht, muss sich erst mal darüber klar werden, wie die Texte ursprünglich lauteten. Das 1959 an der Uni Münster gegründete Institut für Neutestamentliche Textforschung (INTF) ist weltweit führend bei der Analyse der ältesten Bibelhandschriften. Originale aus der Zeit Jesu gibt es nicht mehr, lediglich griechische Abschriften aus den Jahrzehnten und Jahrhunderten danach. Das von Professor Kurt Aland ins Leben gerufene und zur Zeit kommissarisch von seiner Witwe, Professorin Barbara Aland, geleitete Institut verfügt über eine Mikrofilm- und Foto-Sammlung von über 90 Prozent aller erhaltenen etwa 5.600 griechischen Handschriften des Neuen Testaments. Hauptaufgabe des INTF ist die sogenannte „Editio critica maior“ des griechischen Neuen Testaments, die die gesamte Überlieferung in griechischen Handschriften, alten Übersetzungen und neutestamentlichen Zitaten in antiker christlicher Literatur zugrundelegt.

Diese kritische Ausgabe der biblischen Urtexte verlangt eine wahre Detektivarbeit von den Forschern. Mitunter winzige Papyrusfragmente werden Buchstabe für Buchstabe mit Mikro skopen und Speziallampen gelesen. Von Generation zu Generation wurden die Bibeltexte von Mönchen oder einfach von schriftkundigen Gläubigen immer wieder kopiert. Und das mit erstaunlicher Präzision, wie Aland anerkennen muss: „Es ist unfassbar, wie wenige Fehler sich eingeschlichen haben.“ Nur gut 30 Varianten, die die Bedeutung entscheidend verändern, zählen die Wissenschaftler – und das auf über 450 Seiten. Laut moderner Lutherbibel lobpreisen die Engel etwa in der Weihnachtsgeschichte „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf der Erde bei den Menschen seines Wohlgefallens.“ Der Reformator selbst hatte in seiner Übersetzung noch geschrieben: „... und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen.“ Gilt die Weihnachtsbotschaft also allen Menschen oder nur denen, die Gott wohlgefallen? „‘Des Wohlgefallens‘ müsste es eigentlich heißen“, klärt die Professorin auf, was für eine Allgemeingültigkeit des Friedenswunsches spricht.

Der Name Aland ist wie der seiner Vorgänger Erwin und Eberhard Nestle für alle evangelischen Theologiestudenten gleichbedeutend mit der wissenschaftlichen Ausgabe des griechischen Neuen Testaments. „Nestle-Aland“ wird das Standardwerk meist kurz genannt. Aus ihrer Sammeltätigkeit hat sich auch eine eindrucksvolle Bibliothek uralter Handschriften und Bibeln entwickelt, die in dem einzigartigen Bibelmuseum der Uni Münster zu besichtigen sind. “Jesus war cool, Moses auch“, steht in krakeliger Teenagerschrift im Gästebuch dieses Bibelmuseums. Anlässlich seines 25jährigen Bestehens ließ man sich durch diese launige Eintragung zur Sonderausstellung „Who‘s who in der Bibel“ mit bildlichen Darstellungen der Protagonisten des Neuen und Alten Testaments in historischen Bibeln anregen. Besonders reich illustriert wurde zu allen Zeiten das erste Buch Mose mit der Schöpfungsgeschichte und den Geschichten der Erzväter. Sehr schön ist eine Darstellung von Jakobs Linsengericht, mit dem er seinen Bruder Esau betrog. Die Darstellung aus der sogenannten Koberger-Bibel (Nürnberg 1483) ist – typisch für die Epoche – nicht in einer orientalischen Umgebung, sondern in einem herrlich ausgeschmückten spätmittelalterlichen deutschen Ambiente mit Stadtmauern und Burgfräulein angesiedelt. Um eine historisch halbwegs authentische Darstellung scherten sich die Bibel-Illustratoren meist nicht. Wichtiger war der missionarische Gedanke, die alten Geschichten einem zeitgenössischen, dem Lesen im allgemeinen und der lateinischen Sprache erst recht nicht mächtigen Publikum verständlich zu machen. Ganz ähnlich hielten es im übrigen auch die jüdischen Illustratoren dieser Zeit. In einer anderen Glasvitrine ist ein vom Berg Sinai hinabsteigender Moses zu sehen. Wer genauer hinschaut, erkennt, dass der Religionsstifter gehörnt ist – ein bis in die Neuzeit immer wieder vorkommendes Motiv, dessen bekanntestes Vorbild Michelangelos Moses-Skulptur in Rom ist. „Das ist ein steingewordener Übersetzungsfehler, der endlos wiederholt wurde“, erläutert Michael Welte, wissenschaftlicher Mitarbeiter am INTF. Der frühchristliche Bibelübersetzer Hieronymus hatte im hebräischen Urtext die Wörter keren (gehörnt) und karan (glänzend) verwechselt und aus einem freudestrahlenden Moses im lateinischen einen gehörnten gemacht.

Die Ausstellung „Who‘s who in der Bibel“ ist bis zum 27. August im Bibelmuseum Münster, Georgskommende 7, zu sehen. Die Öffnungszeiten sind Mittwoch von 11 bis 13 Uhr, Donnerstag von 17 bis 19 Uhr und am ersten Samstag im Monat von 10 bis 13 Uhr, oder nach Vereinbarung.