Dauerwelle passt zu Blümchenbluse

Das Internationale Haus der Photographie in den Hamburger Deichtorhallen präsentiert eine Retrospektive des englischen Fotografen Martin Parr

von Karin Liebe

Bonbonbunte Lollipops, quietschrosa Törtchen, fette Menschen, die Fastfood verschlingen: Aus Dutzenden von grellbunten Großaufnahmen hat der englische Fotograf Martin Parr die Fratzen der Konsumgesellschaft zu einer Riesencollage montiert. Common Sense treibt deren geschmacklose, abstoßende und traurige Auswüchse auf die Spitze.

Martin Parr, 1952 in Epsom, Surrey, geboren, ist der wichtigste zeitgenössische Fotograf Großbritanniens. In seinen Dokumentarfotos schaut er dem Volk aufs Maul, mal mit liebevoll-ironischem Blick, mal entlarvend-distanziert. Das internationale Haus der Photographie in den Hamburger Deichtorhallen zeigt jetzt die erste große Retrospektive mit über 300 Werken – es ist die einzige Station in Deutschland. Zu sehen sind nicht nur seine bekannten, zunächst umstrittenen farbigen Fotoserien von Touristen, sondern auch sein Schwarzweiß-Frühwerk aus den Siebziger Jahren.

Mittlerweile ist Parr, seit 1994 Mitglied der Photoagentur Magnum, ein Star unter den Fotografen. In diesem Jahr wurde er zum künstlerischen Leiter des renommierten Photographie-Festivals in Arles ernannt. Parrs sehr genauer Blick für das Skurrile wurde durch seinen Vater geschärft, einen Vogelkundler, den er in seiner Jugend regelmäßig bei Beobachtungstouren begleitete. Komische Vögel fotografiert er bis heute. Eigentlich ganz normale Menschen, aber unter seiner Linse werden ihre Eigenheiten grell ausgeleuchtet.

Anfang der Siebziger, als Parr in Manchester mit dem Fotografiestudium begann, war sein Blick noch milder. Zusammen mit seinem Kommilitonen Daniel Meadows hat er Familien in ihren Wohnzimmern abgelichtet. Fast alle sitzen auf dem Sofa unter wild gemusterten Tapeten, oft lümmelt ein Hund vor dem Kamin, den Zinnteller zieren. Es ist schon verblüffend, wie sich die Bilder gleichen. Im Hort der Individualität, der eigenen Wohnung, manifestiert sich wie von selbst der Zeitgeist.

Das Häusliche hat Parr schon immer fasziniert. Sein Studium schloss er mit einer Rauminstallation ab, die auch in Hamburg zu sehen ist: Home sweet home ist ein mit Kitsch und Nippes vollgestelltes Zimmer; an den Wänden hängen Platzteller und Fotos in billigen Woolworth- Rahmen. „Mir gefiel die Kitschigkeit der Rahmen, und dass sie gegen diese ganze Kostbarkeit der Fotografie anstanken, die nie besonders meine Sache gewesen ist.“

Mittlerweile hat Parr selbst Ikonen der Fotografie geschaffen. Seine inzwischen legendäre Serie „The Last Resort“, Mitte der achtziger Jahre im heruntergekommenen britischen Seebad New Brighton aufgenommen, provozierte bei den Kritikern zunächst Ekel und Entsetzen. Weil der Ort so schäbig ist, nackte Kinder neben der Müllkippe herumturnen, Familien neben überquellenden Papierkörben Fastfood essen. Strandleben heißt hier nicht Karibik-Cocktail-Feeling mit Bikinifigur und goldgelbem Sand vor blauen Meereswogen, sondern Braten auf Beton und Windelwechseln vor einer Müllkippe namens Meer.

Natürlich inszeniert Parr diese vermeintlichen dokumentarischen Schnappschüsse sehr genau, leuchtet sie perfekt aus, findet die optimalen Bildausschnitte. Das ist auch das Irritierende an seinen Fotos: Das Alltägliche, ja Schäbige, wird glanzvoll arrangiert – und damit nicht unbedingt schöner, sondern schrecklicher. Parr fotografiert mit Vorliebe Halbglatzen von oben, speckige Nacken und geschmacklos beschuhte Füße. In einer Aufnahme von 1997 verschmilzt eine ältere Dame mit dem Interieur. Ihre rosafarbene Dauerwelle harmoniert farblich nicht nur perfekt mit der Blümenbluse, sondern auch mit der Blumentischdecke und den darauf liegenden Postkarten. Der Mensch verschwimmt mit seiner Umgebung. Grell zu grell, Fastfood zu Fastliving.

Parr präsentiert aber nicht nur die hässliche Fratze von Konsumgesellschaft und Massentourismus. Eine seiner jüngsten Aufnahmen zeigt Stapel von Rindfleischdosen, die mit Kirschblütenzweigen dekoriert sind. So ist der Alltag nicht nur in Tokio: eine Mischung aus Gier und Sehnsucht nach Schönheit. Manchmal wird eben Kitsch daraus.

Internationales Haus der Photographie, Deichtorhallen Hamburg. Geöffnet Di–So 11–18 Uhr; bis 1. August