Von den Lippen gelesen

Idyllenproduktion im Postkommunismus: Wie der Kollektivraum der Gefühle neu besetzt wird, thematisiert Boris Groys in einer Ausstellung in den KunstWerken

Die meisten Werke entziehen sich der Rolle als Illustration kuratorischer Konzepte

Im Westen ist die Idylle als künstlerisches Konzept weitgehend in der Bedeutungslosigkeit versunken. In den Nachfolgestaaten des untergegangenen osteuropäischen Sozialismus jedoch war und bleibt die Idylle überraschend lebendig. Denn die abgeschaffte kommunistische Ideologie hinterlässt ein Territorium der gemeinschaftlichen Gefühle. Im Posthistoire nach dem Ende des Klassenkampfes schafft sich die Erinnerung ihr eigenes Idyll.

Das behauptet jedenfalls der Russlandkenner Boris Groys, Professor für Philosophie, Kunstwissenschaft und Medientheorie an der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe, und versucht seine These mit einer Ausstellung zeitgenössischer Werke aus Osteuropa in den Berliner KunstWerken zu belegen. Der sozialistische Staat habe nicht nur das Privateigentum kollektiviert, sondern zugleich versucht, die Gesellschaft in ein ökonomisches und kulturelles Gesamtkunstwerk zu verwandeln. Doch nach dem Scheitern dieser Utopie befindet sich das kommunistische Kollektividyll auf dem Weg in den Radikalkapitalismus. Privatisierung ist hier das Mittel der Wahl, nicht nur in wirtschaftlicher Hinsicht. Auch die postkommunistische Kunst greift sich aus dem symbolischen Trümmerhaufen der Geschichte, was sie braucht, und antwortet auf die Prozesse der Enteignung von Eigentum und Geschichte mit der Aneignung von Erinnerungen.

Bei Idylle darf man da nur nicht an Liebespaare in pittoresker Naturlandschaft denken. Boris Mikhailov zeigt in seiner großformatigen Fotoserie „Straße“ die ehemals Werktätigen von Charkov, Ukraine, beim Konsum auf dem Markt, beim Warten an der Straßenbahnhaltestelle, beim Biertrinken am Kiosk, beim Totschlagen der Zeit. Der Detailreichtum der Fotografien erzählt von den verfallenden Relikten der Vergangenheit und den kleinen Fetischen der Gegenwart.

Nedko Solakov stellt seine eigene Unbedarftheit und Naivität zur Schau. „Top Secret“, ein Kasten mit Karteikarten, thematisiert seine Zusammenarbeit mit der bulgarischen Geheimpolizei als IM. Die Videoinstallation „Negotiations“ dokumentiert seinen Wunsch, einen Waffenstillstand zwischen Israel und Palästina zu erreichen, damit er während einer Ausstellung in Tel Aviv nicht zu Schaden komme. Hier liegt das Idyllische in der Überhöhung der eigenen Wünsche.

Eine andere Strategie der Idyllenproduktion ist das Vergessen. Die bewusste und die unbewusste Klitterung der Geschichte im Vergessen beschäftigt den in Paris lebende Albaner Anri Sala in seinem Video „Intervista“. Auf einem alten 16-mm-Film, den ihm der Zufall übereignete, entdeckt er eine Rede seiner Mutter, die Ende der Siebzigerjahre Rädelsführerin der kommunistischen Jugendbewegung war. Leider fehlt der Ton, und Mutter Valdet kann oder will sich nicht an ihre Worte erinnern. Erst durch die Übersetzung der Lippenbewegungen durch Taubstumme wird sie mit ihrer eigenen Vergangenheit konfrontiert.

Für das Erinnern und gegen das Vergessen arbeitet auch die Kroatin Sanja Iveković. Schwarzweiß-Poster von Models erregen glamourös die Aufmerksamkeit und verweisen mit ihrer Beschriftung auf ermordete Widerstandskämpferinnen. Posthum verleiht sie in der Serie „GEN XX“ den gesichtslosen Namen ein Antlitz. Trotz oder gerade wegen der Schlichtheit der Darstellung haben die Arbeiten eine ästhetische Kraft, die visuell aufwändigeren und effekthascherischen Exponaten abgeht. Etwa die Gewaltexzesse in Marzipan von Alla Georgieva, deren Torten die ukrainische Alltagsbrutalität entdramatisieren sollen. Oder die kitschigen Fotomontagen „Islamic Project“ der AES & AES + F Group aus Moskau, die eine idyllische Eingliederung islamischer Bauten in die Lebenswelten westlicher Städte beschwören.

Die meisten Arbeiten funktionieren aber auch ohne den theoretischen Überbau und entziehen sich einer Rolle als Illustration kuratorischer Konzepte. Der Warschauer Filmemacher Artur Zmijewski zeigt drei seiner beeindruckenden Videos. So gelang es ihm für „KR WP“, Mitglieder der Ehrengarde der polnischen Armee als Protagonisten zu gewinnen. Erst singen sie Lieder, dann proben sie den Appell im Studio einer Ballettschule. Bis auf Stiefel und Kappe völlig nackt, präsentieren sie das Gewehr und brechen lachend aus der Disziplin aus.

MARCUS WOELLER

Bis 26. Juni, KunstWerke, Auguststr. 69, Di.–So. 12–18 Uhr, Katalog 15 €