Todessehnsucht ist nicht nett

Wörter sind Klänge zwischen Traum und Schlaf, infiziert von einer Geschichte der Gewalt: Wie Harry Hass, ein Junkie, schwarzer Romantiker und Ikone des Westberliner Undergrounds der 80er, noch einmal im Kaffee Burger zu sehen und zu hören war

VON DETLEF KUHLBRODT

Das Kaffee Burger war halb voll: Das neue Buch von Frank-Kirk Ehm-Marks „Eintöniges Leben in schmucklosem Raum“ sollte vorgestellt werden. Frank-Kirk war früher mal Junkie. In seinem Büchlein, erschienen im anarchistischen Karin-Kramer-Verlag, erzählen Gedichte und Zeichnungen von einem süchtigen Leben, ausdrucksstark eigentlich. Keine große Literatur, aber sympathisch wie der Autor, der eher unauffällig mit Brille, kurzen Haaren und Jeansjacke im Raum herumstand und mich an einen haschischsüchtigen Geschichtslehrer erinnerte.

Zur Buchpräsentation hatte Erik Steffens, der Herausgeber, zwei weitere Dichter eingeladen: Johannes Jansen vom Rande des Prenzlauer Bergs, der in den 90er-Jahren mal was beim Bachmannpreis-Lesen gewonnen hatte, und Harry Hass, den letzten Beatnik, vielleicht gar letzten poète maudite. Dazu trat dann noch Alexander Christou mit der Band Low Sweet Chariot auf. Ziemlich viel für drei Euro. Grad auch, wenn man bedenkt, dass Lesungen von Harry Hass nicht nur großartig zu sein pflegen – es gibt keinen besseren Performer in Berlin – , sondern auch äußerst selten sind.

Deshalb wäre es nur recht gewesen, in der Hauptsache wegen Harry Hass zu kommen; auch wenn der Verdacht nahe liegt, dass die meisten eher zufällig kamen, weil’s im Burger ja immer nett ist. Vielen schien der Stellenwert dieser Lesung gar nicht klar zu sein. Zu sehr fällt Harry Hass, der Exjunkie, der außenseiterische Existenzialist und schwarze Romantiker, die Ikone des Westberliner Undergrounds der 80er-Jahre, da ja auch raus aus diesem üblichen, netten, unterhaltendem Literaturlesebetrieb mit diesen ganzen nett aussehenden Jungen und Mädchen. Gebeugt der Körper, das Gesicht gezeichnet vom Drogenmissbrauch. Der Geist sehr klar.

Am Rande des Burger saß er auf einem Barhocker, die langen grauen Haare über vielleicht 20 schreibmaschinenbeschriebenen Blättern gebeugt, in denen er weltvergessen herumredigierte. Rauchend und Afri-Cola trinkend, „Hi Harry, wie geht’s“ an sich abprallen lassend. Mehrmals fragte er, auf den Fotografen Roland deutend, „der ist doch kein Verräter?“ „Nö, der ist okay.“ Ein paar Fotos später saß er immer noch über seinen Blättern, während Johannes Jansen schon las, Texte aus einer Ostberliner Zeit, Anfang der 80er-Jahre, als Harry Hass noch in der Peepshow am Bahnhof Zoo gearbeitet hat. Und die Mädchen mit den Namen, die nach Fernweh klangen, rauchten immer Haschisch. Harry hatte im „Risiko“ und „Ex’n Pop“ dann Gleichgesinnte gefunden und stand ein paar Jahre im „Ex’n Pop“ hinter dem Tresen als größter Barkeeper Berlins. Nach den Schichten am Morgen ging er schreiben.

Drogen, Tabletten, die Gifte der Nacht, Evelin, die langjährige Gefährtin, und für die Jüngeren noch mal: Westberlin war nicht Deutschland, und diese ganze zugleich produktive und selbstzerstörerische Melancholie Westberlins in den 80ern konzentrierte sich im „Ex’n Pop“ in der Mansteinstraße. Einige aus dieser Szene, die Neubauten, Nick Cave, Ben und Merrit Becker, Françoise Cactus’ großartige frühere Band „Lolitas“ wurden berühmt, andere starben.

Harry Hass war dann nicht mehr Barkeeper, entdeckte den Osten, zog mit Peter Wawerzinek, einem geistesverwandten Dichter aus Ostberlin, und seinem Verleger Erich Maas, der vor drei Jahren starb, um die Blöcke, veröffentlichte da und dort was und seinen Roman „Koko Metaller“. Seine wenigen Auftritte als Autor waren legendär. Für die Veranstalter manchmal ein Graus, wenn er wieder plötzlich Feuerwerkskörper abbrannte oder Knallfrösche ins Publikum schmiss.

Es gab zwei Stipendien des deutschen Literaturfonds und zwei Entzüge auf Bonnies Ranch und den israelischen Turboentzug, der auch nicht viel brachte. Der große Roman, auf den alle warteten, erschien nie, wäre jetzt aber fertig, sagt Harry Hass und kommt dann endlich auf die Bühne.

Ganz großer Auftritt. Wie soll man es beschreiben? Poème en prose im Geiste Ginsbergs (Ezra Pounds, Walt Whitmans) ohne den Hauch des Epigonenhaften. Harry Hass ist besessen von der deutschen Geschichte und liest in der Nähe der Adolf-Hitler-Straße, des Hermann-Göring-Platzes. Es geht um Kanaken aus den unterschiedlichen Gegenden Deutschlands und der Welt. Er rappt eigentlich, gebraucht seine Stimme wie ein Instrument, nur ohne diese Macho-Gesten des „Schaut her, wie super ich bin“, improvisiert für die Außenseiter, manchmal sanft auch; die Wörter sind Klänge zwischen Traum und Schlaf, infiziert von einer Geschichte der Gewalt. Dennoch entstehen vor allem Schönheit und Trost in einer Gesellschaft, die die Traurigkeit zur Depression pathologisiert, den Todestrieb leugnet, den Tod tabuisiert und deren Außenseiterrolemodels noch konformistischer sind als jede so genannte Normalität.

Man hatte das Gefühl, bei etwas wirklich Großem dabei zu sein. Nach einer halben Stunde verließ Harry Hass, der keinen Pfennig für die Lesung bekam, die Bühne und stand rum. Oskar Roehler beglückwünschte ihn – nun erst hätte er verstanden, worum es dem Dichter ginge. Ben Becker, der alte Kumpel, lud Harry Hass ein, in seiner „Trompete“ zu lesen. „Schon gehört, dass Benjamin Stuckrad-Barre kokainsüchtig ist?“ Da mussten alle herzlich lachen.