Halma, Pizza, Pythagoras

„Mehr Zeit zum Lernen, mehr Zeit für das Miteinander“ ist das verbindende Konzept der bislang 41 Hamburger Ganztagsschulen. Bis 2007 sollen jährlich drei Schulen entsprechend umgerüstet werden

von PEGGY WOLFF

In Hamburg gibt es 375 allgemein bildende Schulen. 41 davon sind Ganztagsschulen. Sie nennen sich „offen“ oder „verpflichtend“. Jede hat ihren Charakter, ihren Stundenplan, spezielle Freizeitkurse und zusätzliche Unterrichtsstunden. Alle verbindet ein Konzept: „Mehr Zeit zum Lernen, mehr Zeit für das Miteinander“. Ein Anspruch, der Anklang findet. Bis 2007, so sieht es das Senatskonzept vor, sollen in Hamburg jährlich drei Schulen für den Ganztagsbetrieb umgerüstet werden. Die taz hamburg hat einige der bereits bestehenden Einrichtungen besucht.

Haupt- und Realschule Telemannstraße in Eimsbüttel. Es ist fünf Minuten vor zehn, die ersten Stunden Informatik sind geschafft. Ein freundlicher Gong schallt durch die Räume und Flure – 25 Schüler der Realschulklasse „R9“ haben jetzt Deutsch.

Die 16- und 17-Jährigen beschäftigen sich mit „Interpretationen“ – Klassenlehrer Thomas Sach (53) schreibt an die Tafel, was ihm an Text-Beispielen zugerufen wird: Kurzgeschichten, Gedichte, Romane. Am Unterricht hat sich nichts geändert – wohl aber am Tagesablauf. Seit einem Jahr, seitdem aus der Halbtags- eine Ganztagsschule wurde, haben die 300 Schüler der fünften bis zehnten Klassen Anrecht auf tägliche Betreuung, Versorgung und Beschäftigung von acht bis 16.15 Uhr.

Telemannstraße: Ganztagsschule seit 2002

Umdenken mussten Lehrer und Schüler, was die Mittagszeit betrifft. In den fünften bis achten Klassen wird ab 12.40 Uhr gegessen. Spaghetti mit Tomatensoße sind der Renner. Den Nachtisch, Bananen und Fruchtjoghurt, liefert die Großküche „Juneke“ jeden Tag pünktlich. Eine Mahlzeit kostet 2,20 Euro, ermäßigt 90 Cent. Für die älteren Schüler gibt‘s Mittagessen ab 13.25 Uhr, doch die kommen meist nur, wenn es Pizza gibt.

Nach dem Essen kann jeder entscheiden, ob er sich unter Aufsicht der Lehrer auf dem Bolzplatz, in der Turnhalle oder im Schulgarten austoben oder auf dem Sofa im Ruheraum entspannen will. Wer mit den Hausaufgaben nicht zurechtkommt, geht zur „Hausaufgabenhilfe“, eine Fachberatung, die es für Deutsch, Mathematik und Englisch gibt. Wer keins dieser Angebote nutzt, geht nach Hause.

Die Schule Telemannstraße ist eine der so genannten offenen Ganztagsschulen. Prinzip ist es, dass jeder Schüler seinen Stundenplan selbst zusammenstellt. Absicht der 21 Lehrer ist es, Lernen und Freizeit so zu kombinieren, dass ihre Schüler in der Schule bleiben. Am Nachmittag werden spezielle Kurse angeboten. Sie beginnen um 14.45 Uhr und sind an Bedingungen geknüpft. Freizeit heißt unter anderem „Technik“, „Arbeiten in der Holzwerkstatt“, „Kochen in der Schülerküche“, „Surfen im Internet“ – diese Kurse sind freiwillig. Anders beim Lernen. An den so genannten „Förderkursen“ müssen alle teilnehmen, die in den Fächern Deutsch, Englisch oder Mathematik auf der Kippe stehen. Zusätzlich gibt es die „Wahlpflichtfächer“ – Musik, Theater oder Kunst – von denen eines belegt werden muss.

Im Gegensatz zu ihren jüngeren Mitschülern haben die 12 Mädchen und 14 Jungen der „R9“ deutliche Schwierigkeiten mit der Umstellung zur Ganztagsschule. „Ich habe keine Zeit mehr, meine Freunde zu treffen“, klagt beispielsweise der 16-jährige Dominique. Und Christin (15) sagt: „Ich weiß gar nicht, was ich den ganzen Tag hier soll. Meine Hausaufgaben mache ich lieber zuhause.“ Die meisten der Klasse nutzen den Vorteil der offenen Ganztagsschule und boykottieren die Freizeitkurse.

Probleme, die es in Hamburgs erster und mit knapp 45-jährigem Bestehen ältester Ganztagsschule „Am Altonaer Volkspark“ nicht mehr gibt. Diese kindgerechte Einrichtung kann sich seit Jahren vor Anmeldungen aus ganz Hamburg kaum retten, obwohl die Luruper Grund- und Hauptschule eine so genannte „verpflichtende“ ist. Die Schüler werden von 8 bis 15.30 Uhr betreut und dürfen nur mit Genehmigung eher gehen.

Der siebenjährige Sascha Tesch besucht die zweite Klasse. Er muss ins letzte der fünf zweigeschossigen Häuser mit Blick auf den Volkspark – dort ist sein Klassenraum. Er trägt keinen Ranzen, nur eine Brottasche. Seine Schulsachen liegen in seinem Fach im Schülerregal oder unter seiner Schulbank. Die fünf Mädchen und vierzehn Jungen seiner Klasse haben ihre Tische zu einem großen „U“ um die Tafel formiert. Der 60 Quadratmeter große Raum lässt noch Platz für vier Esstische mit gelbgeblümten Kunststoffdecken. Und für einen Schrank in der Ecke, in dem sich Brettspiele wie „Mensch ärgere dich nicht“, „Schach“ oder „Halma“, Tischtennisschläger, Tennis- und Fußbälle drängeln.

Am Altonaer Volkspark: Ganztagsschule seit 1958

„Schreiben“ und „Lesen“ sind für heute erledigt. Große Pause – raus ins Freie. Die Zweitklässler toben auf dem weitläufigen Schulhof unter Aufsicht von zwei Lehrern – die Jungen bolzen mit einem Fußball aus dem Spieleschrank, einige Mädchen spielen Fangen. Zehn Minuten später läutet es zum Frühstück, Händewaschen, dann werden im Klassenzimmer die mitgebrachten Butterbrote ausgepackt. Noch eine Stunde „Sachkunde“, und dann, in der letzten Stunde, verteilt Klassenlehrerin Susanne Jacobs (46) die „Freitagsbriefe“. Das sind – seit 40 Jahren – Mitteilungen der Klassenlehrer an die Eltern. Sie erfahren all das, was den Kleinen manchmal gar nicht so wichtig erscheint. Sascha liest: „Radiergummi fehlt ... im Sport gestolpert ... die Sohle an den Sportschuhen ramponiert ... ein Test im Lesen ist für Dienstag geplant ... fünf Euro für den Klassenausflug überweisen“. Am Montag wird der Brief von den Eltern unterschrieben wieder auf dem Lehrertisch landen.

Es bimmelt – 11.45 Uhr, Essenszeit. Sascha hat freitags Tischdienst. Besteck nimmt er aus einem Schrank im Klassenzimmer, legt es, Messer rechts, Gabel links, auf die gelben Decken und begleitet Klassenlehrerin Jacobs in die Schulküche. Dort füllen zwei Küchenkräfte Portionen für seine „Zweite“ aus riesigen Warmhaltebehältern in kleinere um. Sascha muss 19 Äpfel abzählen. 19 Kinder hauen rein. Es gibt Spaghetti mit Tomatensoße.

Die Zweitklässler dösen ein wenig auf ihren Plätzen – Ruhe vor dem Sturm, gleich darf wieder getobt werden. Denn natürlich hält auch die Ganztagsschule „Am Altonaer Volkspark“ Freizeitangebote in der Mittagspause bereit – „Musik“, „Inlineskating“, „Freies Werken“, „Schach“, „Schreibwerkstatt“. Danach ist nochmal Unterricht. Sascha hat Sport bis 14.30 Uhr – freitags ist eine Stunde eher Schluss.