Visionen für das kürzere Ende der Straße

Tüten-Beete, U-Bahn-Anemonen und sprechende Farben: „Temporäre Gärten“ auf der südlichen Friedrichstraße sollen dazu reizen, das Neue zu denken und ganz einfach Schönes zu zeigen. Internationale Landschaftsarchitekten spielen mit dem öffentlichen Raum – doch manchen ist nicht danach

Eine Stadt lebt, wenn sie sich vom Beton ab- und den Menschen zuwendet

von WALTRAUD SCHWAB

Visionen – ein besonderes Gut. Einige von ihnen entstehen im Verborgenen. Wie jene vom Mehringplatz, der für vier Tage ein Garten sein soll. Eine schöne Idee, voll Wunder und Verzauberung. Denn eigentlich hängt dem Platz, der früher die Friedrichstraße mit dem Mehringdamm verband, die Aura städtebaulicher Ödnis an. Abgeschnitten vom neuen Glamour jenseits des Checkpoint Charlie, endet die Prachtmeile in dieser für die Autos nicht mehr zugänglichen Sackgasse, die einst im Kreis um den barocken Brunnen führte.

Dass eine Stadt lebt, wenn sie sich den Menschen und nicht den in Beton gegossenen Ideen zuwendet, das zeigen die „Temporären Gärten“, die nun den öffentlichen Raum zwischen Kochstraße und Halleschem Tor „neu denken“, wie Sally Below, die Organisatiorin, sagt. Neunzehn künstlerische und landschaftsarchitektonische Positionen machen aus dem vergessenen Teil der Straße und deren Umgebung eine Spielwiese.

„Es gilt, das Abseitige dieser Gegend neu zu entdecken“, sagt die Veranstalterin. Dabei wird durch Schlüssellöcher geschaut und mit dem Unvorhergesehenen geflirtet. Zu erspähen sind Blumen, die auf Wäscheständern verblühen, und vergessenes Spielzeug, das nachts durch die Parks geistert. Über den Schächten der U-Bahn entlang der Friedrichstraße gehen U-Bahn-Gewächse auf. Der unterirdische Luftzug haucht ihnen im Rhythmus der fahrenden Züge Leben ein. Statischer wirkt die rosarote Kugel auf dem Mehringplatz. Ihr äußeres ist unvergänglich, das, wofür sie steht, bleibt allerdings flüchtig. Denn an diesem Ort ist der Mensch aufgefordert, sich den süßen Gefühlen hinzugeben. Sie beginnen mit Himbeersaft und enden im Kuss. Selbst der Supermarkt auf dem Mehringplatz lässt sich bei so viel sinnlicher Leichtigkeit nicht lumpen und verziert seine graue Fassade mit Rosen.

Nicht alle vergänglichen Paradiese, die sich die Landschaftsarchitekten für diesen Teil der südlichen Friedrichstadt ausgedacht haben, halten das, was sie versprechen. Einige schon. Die „Taschengärten“ von Tanja Piening und Kirsten Polifka gehören dazu. Aus den eleganten, schwarzweiß gemusterten Tragetüten des noblen Einkaufcenters „Quartier 206“, das in der oberen Friedrichstraße liegt, lugen gelb blühende, weiße, pinkfarbene Blumen hervor. Aufgestellt sind diese tragbaren Gärtchen vor dem wenig Wohlstand versprechenden Arbeitsamt am unteren Ende der Friedrichstraße unweit des Mehringplatzes. Den beiden Landschaftsarchitektinnen gelingt es auf diese Weise, den in Arm und Reich, Kreuzberg und Mitte geteilten Boulevard mit Ironie zusammenzufügen. Auch die mitunter farbig aufleuchtenden kugelförmigen Straßenleuchten auf dem Mehringplatz – ein Projekt von Christoph Roedig und Katrin Söncksen – wirken wie eine Verneigung vor den Menschen. Manchmal ist aus einem Lautsprecher über den Lampen gar die Farbe zu hören, mit der die Vorübergehenden beleuchtet werden. „Grün“, ruft eine Stimme scheppernd in die Dämmerung. Oder: „Blau.“

Vier Tage lang wird Schönes im öffentlichen Raum der südlichen Friedrichstadt platziert. Schon der Anblick verspricht Freude. Um nicht mehr und nicht weniger geht es bei der vom Hauptstadtkulturfonds mitfinanzierten Aktion, die zum sechsten Mal in Berlin stattfindet. In den Jahren zuvor wurden vor allem Orte im ehemaligen Ostberlin, wie Schlossplatz, Fischerinsel oder Marx-Engels-Forum bespielt.

Die „Temporären Gärten“ sind eine Intervention im öffentlichen Raum, die vom Idealismus der Landschaftsarchitekten und vom Geld, das es den Sponsoren wert ist, leben. Ein offener Wettbewerb ist es zwar, aber die ausgewählten Projekte müssen sich nahezu selbst finanzieren, da die öffentlichen Gelder bei weitem nicht ausreichen. Die ausgewählten Projekte versprechen sich von der Teilnahme einen Imagegewinn. Deshalb gehen sie betteln. Das sind die Wermutstropfen der Aktion.

Den Kindern allerdings sind die Umstände egal. Sie sind dankbare Rezipienten und nehmen die neuen Interaktionen auf dem Platz gerne an. Den alteingesessenen Bewohnern und Bewohnerinnen der umliegenden Sozialbauten, die stoisch von ihren Balkonen aus auf das Treiben blicken, scheint jede Neuerung dagegen Angst einzuhauchen. Wie sonst sind die faulen Eier zu verstehen, die am Eröffnungsabend auf die Gäste von Michael Köpkes Klanginstallation auf dem oberen Deck des Parkhauses am Mehringplatz fliegen? Baufällig sei die obere Fläche, deshalb für die Autos nicht mehr zugänglich. Stattdessen zwängen sich bereits Löwenzahn, Schafgarbe und Gänseblümchen durch Ritzen im Beton. Für die Bewohner und Bewohnerinnen der umliegenden Sozialbauten allerdings könnte es eine ideale Sonn- und Spielfläche sein. Sie aber nutzen es nicht.