Der Tag der schwitzenden Bilder

Der berühmteste Bauarbeiterlehrling der Welt: Harry Schotter und der Fluch des Y-Tong

Harry fühlte, wie ihm die Sinne schwanden. Die Mauer war erst kürzlich errichtet worden

Der größte Feiertag für die Lehrer von Cockwarts war angebrochen: der Vatertag! Schon am frühen Morgen strahlte herrlichster Sonnenschein. Als die Schüler erwachten, standen die Asphaltflächen rund um das Bauarbeiter-Internat voller Leiterwagen, Bierfässer, Einweggrills und Holzkohlesäcken. Dazwischen lagen grell gemusterte Kühltaschen, bis zum Rand gefüllt mit Grillgut und Schnaps. Harry Schotter und sein bester Freund Ronnie lugten durch das Velux-Fenster des Schlafsaals neidisch auf die bunt gekleideten Gesellen und Meister, die sich unten versammelten und einander herzhaft anbrüllten, die lustigen Klingeln an ihren Spazierstöcken drückten und mit albernen Strohhüten grüßten. „Die werden saufen wie blöd“, seufzte Ronnie sehnsüchtig.

„Und Würste fressen, bis sie kotzen“, schwärmte Harry versonnen. Klammheimlich hatte sich Branko Malzeug, der schleimige Streber, herangeschlichen und quäkte: „Es tut mir ja so Leid um all die Leute, für die heute kein Vater loszieht, um ordentlich einen zu heben …!“ Ronnie wirbelte wutentbrannt herum. „Was fällt dir ein, du Schwuchtel?!“, schrie er mit überschnappender Stimme. „Harry hat es sich nicht ausgesucht, dass seine Eltern bei OBI von einer umstürzenden Palette verhexter Y-Tong-Steine zerschmettert … –“

„Lass gut sein“, fiel Harry Schotter seinem Freund ins Wort. „Branko kann es halt nicht ertragen, dass er selbst nie den Vatertag feiern wird … Er hat ja für Mütter nix übrig …“

Ronnie lachte herzhaft und klatschte derb auf Harrys Hand. Malzeug wurde puterrot und winselte: „Das werdet ihr noch büßen, ihr Versager … büßen!“ Doch er war schlau genug, sich aus dem Staub zu machen: Hackfred, der baumlange Hausmeister, war nämlich inzwischen auf dem Parkplatz eingetroffen. Und weil seinen großen Ohren nichts entging, warf er einen misstrauischen Blick hoch zu dem Fenster, hinter dem Malzeugs bösartige Stimme gellte.

Nach dem täglichen Vergleich ihrer „Zauberstäbe“ beim Duschen rannten die Berufsschüler hungrig in die Kantine. Johanna Rohling, die Tresenchefin, verteilte fürsorglich ein paar Ohrfeigen, ehe sie große Paletten mit Leber-, Mett- und Plockwurstbrötchen auf die Tische hexte. Die Jungens grinsten freudig: Der Feiertag ging auch an ihnen nicht vorbei!

„Und was machen wir mit dem schulfreien Tag?“, fragte Hermann, der Klassenbeste, nachdem sie ordentlich reingehauen und sich gegenseitig zu markerschütternden Rülpsern angefeuert hatten.

„Fürze flämmen!“, schlug Ronnie vor. Er war in diesem Fach der ungeschlagene Champion von Cockwarts. Die anderen winkten ab. „Na ja …“, sagte Harry bedächtig. „Die Lehrer sind alle weg … Und Frau Rohling verschwindet auch gleich … Wann, wenn nicht heute, könnten wir ungestört nach … dem ‚Nasskaplan‘ suchen?“

Die Azubis raunten aufgeregt durcheinander. „Nasskaplan“! So nannte man die verbotene Gruft, in der Schulleiter Schwammamtor seine legendäre Coupé-Sammlung verwahrte. Nur die Lehrer und Hackfred wussten, wo der „Nasskaplan“ zu finden war. Hin und wieder sah man die ehrwürdigen Handwerksmeister mit großen Paketen parfümierter „Tempo“-Taschentücher durch Cockwarts schleichen. Und alle ahnten, dass sie auf dem Weg zum „Nasskaplan“ waren.

„Aber“, gab Hermann zu bedenken, „wie sollen wir an Hackfreds Molosserhund vorbeikommen? Der reißt doch alle in Stücke, die nicht den geweihten Zollstock bei sich tragen!“

Die Jungen schauten sorgenvoll. Harry Schotter aber lächelte breit. „Kein Problem“, sagte er. „Der Direx hat diesen Zollstock nicht am Mann bei der Vatertagstour. Ich bin sicher, dass das Teil auf seinem Schreibtisch liegt!“

Keine Viertelstunde später hatte Ronnie das sagenumwobene, klappbare Metermaß organisiert. Obwohl aus edelstem Kiefernholz gefertigt, trug es die Zeichen langer Benutzung. Vor allem um die 25-Zentimeter-Marke reihten sich tiefe Kerben. „Das sind“, wusste Hermann, „die Insignien der Cockwarts-Schulleiter seit 1750. Aber es gab einen, der weit unter dem Maß blieb …“

„Vollderschrott“, flüsterte Harry schaudernd. Der schmählich verstoßene Vollderschrott … Jener grauenhafte Mann, der sein Geheimwissen über die schwarzen Arbeiten von Cockwarts-Absolventen an das Finanzamt der Muffel verraten hatte. Der Mann, der sich nach seiner Enttarnung durch Hausmeister Hackfred als Gabelstapelfahrer verdingt hatte. Und zwar in dem OBI-Markt, in welchem Harry Schotters Eltern … –

„Hier geht’s lang!“, rief Ronnie, Harry aus seinen düsteren Gedanken reißend. Die Azubis rannten einen engen Gang entlang – und mussten plötzlich innehalten. Eine lückenlose, gipsweiße Wand versperrte den Weg. Harry fühlte, wie ihm die Sinne schwanden. Die Mauer war erst kürzlich errichtet worden. Man roch den frischen Mörtel. Es war nicht irgendeine Mauer. Zeile für Zeile war sie errichtet worden aus … Y-Tong-Elementen!

Mit Zimmermannsstift hatte jemand auf die Wand gekrakelt: „Eltern haften für ihre Kinder. TOTE Eltern auch. Gez.: V.“

„V.“ – Vollderschrott! Eine furchtbare Erkenntnis blitzte in Harry Schotter auf: Der unersetzliche „Nasskaplan“ war in die Hände des Feindes gefallen! Ohnmächtig stürzte der Maurerlehrling zu Boden. GERT OCKERT