Dämonen der Landstraße

Am 1. Juli 1903 startete die erste Tour de France, ein Spektakel, das zur Auflagensteigerung einer Zeitung erfunden wurde. Rechtzeitig zum Jubiläum ist das in so manchem Buch nachzulesen

Prüfen Sie Ihre Bremsen, und machen Sie keinen Lärm beim Durchfahren der Stadt

von FRANK KETTERER

„Die Zielankunft? Ach, die hab ich glatt verpasst! Garin und Pagie, die ich nach ihrer kurzen Verpflegungspause bei Moulins in die Nacht entschwinden sah, waren auf ihren einfachen Fahrrädern schneller in Lyon als ich im Expresszug! Als ich mich mit eigenen Augen von der unglaublichen Frische dieser beiden Dämonen der Landstraße überzeugt hatte und ihren Vorsprung auf den sehr optimistischen Zeitplan berechnete, da beschlich mich die Vorahnung, dass ich ihre Ankunft in Lyon verpassen würde. Gleich nach dem Einlaufen meines Zuges um 8.50 Uhr sprang ich in ein Auto, und als ich zum Quais de Vaise kam, sah ich schon von weitem vielleicht tausend Leute, die winkend, schreiend und applaudierend zwei Männer umgaben, die weiß vom Staub waren. Das waren sie! Leider stiegen sie gleich darauf in ein Auto und fuhren davon. Doch zum Glück konnten mir die beiden Herren Kontrolleure den Zieleinlauf schildern.“

So war das also damals, vor hundert Jahren, als einer der größten Mythen in der Welt des Sports seine Premiere feierte: Der Berichterstatter traf nach den Protagonisten ein, die den Ort ihres Triumphes schon wieder verlassen hatten, ehe der arme Schreiberling überhaupt auch nur ein Wort mit ihnen wechseln konnte. Dem Absatz seiner Reportage über die allererste Etappe – von Paris nach Lyon – tat das freilich keinen Abbruch, die 93.000 Exemplare mit dem Bericht zum Sieg von Maurice Garin, der auf den Etappen stets eine Flasche Rotwein mit sich führte und auch erster Gesamtsieger wurde, waren im Nu vergriffen. Frankreich lechzte nach den Geschichten der neu geschaffenen Helden der Landstraße.

Das lag durchaus im Kalkül, schließlich war die Tour von Anfang an, was sie – neben allem sportlichen Spektakel – auch heute noch ist: ein Medienereignis. Mehr noch: ein von einem Medium für das Medium geschaffener Event, in erster Linie dem Gedanke der Auflagensteigerung verpflichtet. Diesen gab es freilich schon vor der Tour. Bereits seit 1891 veranstaltete Le Vélo, damals Frankreichs größte Sportzeitung, die bei Lesern überaus beliebte Radfernfahrt von Bordeaux nach Paris, immerhin 500 Kilometer, über die in der Zeitung ausführlich und exklusiv berichtet wurde.

Die 1900 neu gegründete Konkurrenz von L’Auto konnte da nicht zurückstehen, wollte sich andererseits aber auch einfache Nachahmerei nicht nachsagen lassen. So hatte Henri Desgrange, Chefredakteur von L’Auto, mehr oder weniger nur diese Möglichkeit: ein Ereignis zu schaffen, das alles Bisherige in den Schatten stellte. Am 20. Mai 1903 schrieb er in L’Auto deshalb eine „Tour de France“ aus, eine Rundfahrt über 2.428 Kilometer und sechs Etappen, die 19 Tage dauern sollte. Als Anreiz für die Sportler lobte die Zeitung 20.000 Francs an Preisgeldern aus, 3.000 Francs davon waren für den Sieger bestimmt.

Doch selbst das schien nicht ausreichend. Dem ersten Aufruf jedenfalls folgten lediglich 27 Pedaleure, weshalb Desgrange nachlegte: „Die Hoteliers bieten Ihnen Sonderpreise an, und die Zuschüsse der Organisationen sind großzügig. Und vergesst nicht, dass jeder, der etwas leistet, für seine zehn Francs Startgeld hohe Preise gewinnen kann. Zauderer, gebt eure Meldung ab!“, hieß es in diesem zweiten Aufruf, von dem sich dann doch noch insgesamt 60 Fahrer überzeugen ließen, sich am 1. Juli 1903 ins Abenteuer Tour de France zu stürzen, nicht ohne nützliche Hinweise versorgt, so wie diesem für die zweite Etappe: „In Annonay gibt es eine gefährliche Kurve, die beleuchtet sein wird. Prüfen Sie Ihre Bremsen, und machen Sie nicht zu viel Lärm beim Durchfahren der Stadt.“

Lärm hat die Große Schleife in ihrer hundertjährigen Historie dann freilich noch genügend gemacht, letztendlich wurde sie dafür ja erfunden: als Geschichten- und Skandalmaschine. Vielleicht liegt gerade darin ihr Mythos begründet – und ihre Unsterblichkeit, auch wenn Henri Desgrange diese bereits nach der zweiten Auflage nicht erkennen wollte – und eher zur Kapitulation neigte. „Die Tour ist beendet. Die zweite Ausgabe, da bin ich mir sicher, wird die letzte gewesen sein“, schrieb er, völlig entnervt vom Krieg, zu dessen Bühne die Fahrradindustrie, zu jener Zeit durchaus eine Branche von gesamtwirtschaflicher Bedeutung, die Tour missbraucht hatte.

Angesägte Fahrradrahmen, mit Gift versetzte Getränke, hautreizende Substanzen in den Trikots oder mit Nägeln übersäte Straßen waren nahezu an der Tagesordnung, im Kampf um den Gesamtsieg schien den Fahrradfirmen und ihren Fahrern kein Mittel zu niederträchtig, ungeliebte Konkurrenten wurden notfalls von Begleitfahrzeugen von der Straße gedrängt. Um Zeit und Kraft zu sparen ließen sich die Fahrer von Autos schleppen, nahmen zuvor ausgespähte Abkürzungen oder fuhren einfach ein Stück mit der Bahn, eine Betrugsart, der unter anderem auch die vier Erstplatzierten überführt wurden. Allesamt wurden sie, wenn auch erst im Nachhinein, disqualifiziert.

Henri Desgrange hat sich dennoch mächtig geirrt, als er die Tour ob dieser Skandale bereits in ihrem zweiten Jahr dem Tode geweiht sah. Ganz im Gegenteil: Die Auflage stieg, gerade die Betrugsgeschichten schienen die Leser in ihren Bann zu schlagen. Daran hat sich bis heute kaum etwas geändert, man denke nur an Doping. Die Tour de France erfüllte ihren Zweck, sie erfüllte ihn vortrefflich. Und sie gebar immer neue Geschichten, neue Skandale – und neue Helden, die, einem Perpetuum mobile gleich, den Mythos der Tour am Leben hielten und sie wachsen ließen zu jenem millionenschweren Wirtschaftsunternehmen, die sie heute ist.

Und nicht immer hießen die Helden Armstrong, Induráin, Merckx oder Anquetil, nicht immer waren es die strahlenden Sieger, gerade tragische Verlierer taugen schon auch zum Vorbild, die Tour ist auch gefüllt mit ihren Geschichten.

So wie jener von Eugène Christophe, die sich 1913 und auf dem Tourmalet zutrug: 18 Minuten Vorsprung hatte der Franzose herausgefahren auf den Zweitplatzierten, den späteren Gesamtsieger Philippe Thys. Dann, auf der rasenden Abfahrt, bricht ihm die Gabel am Vorderrad. Christophe schultert sein Fahrrad, marschiert 14 Kilometer in die nächste Dorfschmiede und repariert am lodernden Feuer der Schmiede eigenhändig seine Gabel, fremde Hilfe ist laut Reglement nicht erlaubt. Vier Stunden dauert der unfreiwillige Halt, plus jene drei Minuten, die ihm die Rennkommissare aufbrummen, weil der Franzose sich doch hatte helfen lassen: Ein Dorfjunge hatte den Blasebalg betätigt, um das Feuer am Lodern zu halten.

Heute bekommt der Fernsehzuschauer Christophes Geschichte alljährlich zu hören, wenn es den Tourmalet hinaufgeht und wieder hinunter; sie ist längst zum radlerischen Allgemeinwissen geworden. Und sie darf natürlich auch in keinem Buch fehlen, das die Geschichte der Tour aufarbeitet und von denen es diesen Sommer reichlich gibt.

Das Opulenteste dieser Werke ist im Delius Klasing Verlag erschienen. Auch wenn es den wenig einfallsreichen Titel „100 Jahre Tour de France“ trägt, so darf der knapp 350 Hochglanzseiten dicke Schmöker doch als das neue Standardwerk der Tour de France bezeichnet werden, schon weil es auf zahlreiche authentische Reportagen und historische Fotos aus dem Archiv der das Spektakel heute ausrichtenden Sportzeitung L’Equipe zurückgreift – und bisweilen, wenn auch äußerst unfreiwillig, gar satirische Züge trägt. Etwa dann, wenn ARD-Pseudo-Radsport-Experte Dr. Jürgen Emig seine penetrante Ahnungslosigkeit zu Papier bringen darf.

Auf solche Ausflüge ins Reich der Zwangsironie verzichtet das im Werkstatt-Verlag erschienen Buch „Nicht alle Helden tragen Gelb“. Ansonsten ist den beiden Autoren Ralf Schröder und Hubert Dahlkamp ein nicht minder interessantes und lesenswertes Rundum-Werk gelungen, das unter anderem auch durch seinen statistischen Anhang sowie ein „Lexikon der Tour-Fahrer“ besticht. Auffallend hingegen ist, dass in beiden Büchern das Thema Doping nur am Rande vorkommt – und/oder mit sehr viel Verständnis für die Fahrer abgehandelt wird.

Dies gilt auch für das im Eichborn Verlag erschienene „Kleine Lexikon der Tour-Mythen“ von Wilfried F. Schoeller, nur fällt dies in dem Büchlein des Bremer Literaturprofessors weit weniger ins Gewicht, da es ohnehin nur an der Oberfläche des Radsports und dem Wesen der Tour kratzt. Zu vieles bliebt bei Schoeller vage, auch gelingt es dem Autor nicht, dieses Manko durch sein ausgiebiges Form- und Fabulieren zu kompensieren.

Vorgestellte Bücher: „100 Jahre Tour de France“. Delius Klasing Verlag, München, 320 Seiten, 29,90 Euro„Nicht alle Helden tragen Gelb – Die Geschichte der Tour de France“ von Ralf Schröder und Hubert Dahlkamp. Verlag die Werkstatt, Göttingen, 384 Seiten, 24,90 Euro„Kleines Lexikon der Tour-Mythen“ von Wilfried F. Schoeller. Eichborn Verlag, Frankfurt, 192 Seiten, 13,95 EuroWeitere Tour-Bücher: „Halbgötter in Gelb – Das Lesebuch zur Tour de France“ von Les Woodland. Verlag covadonga, 280 Seiten, 16,90 Euro„Raubeine Rasiert – Bekenntnisse eines Domestiken“ von Paul Kimmage. Verlag covadonga, 318 Seiten, 14,80 Euro„Unter Engeln und Kannibalen – Die schönsten Geschichten aus 55 Jahren Radsportjournalismus“ von Helmer Boelsen. Verlag covadonga, 320 Seiten, 19,80 Euro