Hoffen, Warten, Singen

Lauter! „Wach auf Argentinien …“ Noch mal! „Wach auf …“ Nein, nein, nein – nicht verwechseln: Beim Evita-Casting im Musical-Theater geht’s um Tanz- & Sangeskunst. Nicht etwa um neurotische Zoo-Tiere

So schnell schwindet trügerische Ruhe. „Da kannst du ja gleich Happy Birthday singen!“ Christoph Wohlleben springt hinter dem Jurytisch hervor und fegt den Pianisten beiseite. „Kennst du Evita?“

Auf diese Frage könnte man vorbereitet sein, wenn man sich als Tänzer und Sänger für die neue Evita-Produktion bewirbt, die im Bremer Musical-Theater vom 25.11. bis 31.12.04 auf dem Programm steht. Einige haben sich schon bei der Wahl des Outfits auf Argentinien eingestellt: Da sieht man strohblonde Frauen im groß geblümten Kleid und knallroten Pumps gegen das Image der kühlen Nordlichter anstöckeln. Der junge Mann, dem jetzt das Parkett im Theater-Restaurant gehört, wirkt jedoch etwas überrumpelt. Er hatte Lionel Richie vorbereitet.

Wohlleben, der musikalische Leiter der Produktion, intoniert im Marschtakt: „Wach auf Argentinien und mach dich bereit für den Tag.“ „Wach auf – was?“ Beim nächsten Versuch sitzt die Zeile. Nochmal! „Wach auf, Argentinien…“ Lauter! „Ganz locker bleiben“, flötet Choreograph Stephan Brauer. Der Kandidat versucht eine Fluchtbewegung hinter das Klavier. „Nach vorne!“ Ein letztes Mal: „Wach auf Argentinien ...“ Danke, tschüss, Post gibt es nächste Woche. Ende der Tortur.

Mecki Fiedler steht sie noch bevor. Dreißig bis vierzig solcher Castings lässt die Tänzerin im Jahr über sich ergehen. Zuletzt choreographierte sie selbst im Altonaer Theater. Das nächste Engagement ist in Berlin. Länger als zwei Monate hält sie eine Produktion selten an einem Ort.

In den vergangenen Jahren sei das Angebot an Engagements trotz der zahlreichen Pleiten in der Musical-Industrie eher größer geworden, beobachtet sie. Doch die Konkurrenz schläft nicht. Immerhin sieht die 36-Jährige einen Vorteil im Älterwerden: „Viele Jüngere werfen alles hinein, was sie haben.“ Sie habe gelernt, ihre Kräfte zu sparen.

Doch eines hat sie mit denen gemeinsam, die hier um ihr erstes Engagement singen: Vor dem Casting haben alle am meisten Lampenfieber. „Auf der Bühne“, erklärt Mecki Fiedler, „verteilt sich die Leistung auf viele Darsteller. Das Publikum ist wohlwollend.“ Aber hier?

Auf der schmalen Galerie vor dem Theaterrestaurant drängen sich die BewerberInnen um die Steh-Tische. Die bereitstehenden Traubenzucker-Bonbons und belegten Brötchen werden kaum weniger. Einige Leute lernen noch fieberhaft Texte, die meisten plaudern oder suchen nach Plauderstoff. Bei den Absolventinnen der Hamburger Stage School of Music, Dance and Drama entsteht ein bisschen Klassenfahrtatmosphäre. Zum ersten Mal werden Lebensgeschichten ausgetauscht, obwohl man schon so lange miteinander studiert hat. Angst geht um vor dem Moment, der Jury mit den Augen zu begegnen. In einen anonymen, dunklen Zuschauerraum singe es sich viel leichter hinunter, sagen sie.

Anders als man das von Bohlen und Co. gewohnt ist, werden die Jury-Kommentare den KandidatInnen nicht persönlich um die Ohren gehauen, sondern im Nachhinein erörtert. Angesichts der Urteile sind all die Bedenken auch nicht ganz unberechtigt: „phlegmatisch“, „grobschlächtig“, „brüllt“ – als gelte es, statt Sangeskunst die Verfassung neurotischer Zootiere zu analysieren. Gegen Ende des Defilees verschieben sich merklich die diskutierten Kriterien: schlapper Tanz und knödelnder Gesang werden schon einmal durch eine „frauliche Ausstrahlung“ wettgemacht.

„Jetzt müssen wir mal maßnehmen“, droht Wohlleben neckisch einer Kandidatin. Die schaut irritiert an sich hinunter. „Beim Stimmumfang!“ – kommt die nicht minder neckische Entwarnung. Hehehe. Das Kusshändchen vom Choreographen fliegt weiblichen Kandidatinnen zum Abschied immer öfter um die Ohren. „Ciao, Bella – Baccio“–gut zugehört beim italienischen Eismann, aber leider die falsche Sprache, um eine echte Halb-Argentinierin zu verabschieden.

Annedore Beelte