Der ausgesperrte Himmel

Zum Pokalendspiel am Samstag präsentiert sich das Olympiastadion fast fertig saniert. Unter dem neuen Dach entstand ein moderner Innenraum. Die Geschichte der für die Olympischen Spiele 1936 errichteten Arena ist nur noch von außen zu sehen

VON ROLF LAUTENSCHLÄGER

Der Himmel ist weg. Die Wolken fehlen, ebenso die schier unendliche Weite. Stattdessen schiebt sich eine riesige Linse vor den Blick nach oben. Kreisrund und aus hellen textilen Bahnen ist diese Linse, die in der Mitte ein kleines Aussichtsfenster freigibt, das die Himmelweite noch erahnen lässt. Hier, unter dem neuen Dach des Olympiastadions, das die Architekten Gerkan, Marg und Partner (Hamburg) entworfen haben, ist nichts mehr so wie früher. Der Himmel fehlt, den die faschistische Ästhetik in die steinerne Sport- und Aufmarschschüssel aus dem Jahr 1936 als inszeniertes Naturschauspiel mit einbezog. Man hatte sich fast an ihn gewöhnt – so wie an Hertha BSC.

Wenn zum Pokalfinale am Samstag und zur feierlichen Eröffnung der sanierten Arena im Sommer die Fußballmassen strömen, spielen die Kicker in einem neuen „Innenraum“. Gestalt und Funktion des Bauwerks von Werner March, die Fassade mit ihren monumentalen Pfeilern, hallenartigen Umgängen und Treppen sind weiter in der Ansicht erlebbar, sie bleiben aber „außen vor“. Die Geschichte des Olympiastadions von 1936 wird nach dem Umbau als Bild des Vergangenen draußen gelassen. Die innen liegende Sportstätte des 21. Jahrhunderts mit Überdachung hat sie überholt.

Es sind diese Eindrücke über Alt und Neu, Außen- und Innenraum, Himmel und Dach, die sich bei einem Rundgang über die Baustelle zuerst einprägen – während die Arbeiten in dieser Kulisse noch auf Hochtouren laufen. Das Augsburger Bauunternehmen Walter-Bau, das den Auftrag des Landes für die 250 Millionen Euro teure Sanierung erhielt, ist mit der Endmontage beschäftigt.

Der riesige Kranz für die Überdachung ist fertig gestellt. Das runde Zeltdach ist auf die tausend Tonnen schweren Stahlträger gespannt und schützt nun alle Sitzplätze. Seine Öffnung in der Mitte und über dem Marathontor haben die Architekten mit einem Glasring optisch vergrößert. Die dunklen Sitzschalen sind montiert, gewerkelt wird hauptsächlich an der neuen Tartanbahn, den Sanitäranlagen, Aufgängen und Erschließungssystemen, für die neuen 113 Logen, an der Ehrentribüne und für die Grünanlagen.

Walter-Bau will nicht am Termin der Fertigstellung rütteln lassen, obwohl man sich den endgültig abgeschlossenen Innenausbau bis Ende Juni nicht vorstellen kann. Alexander Görbing, Walter-Bau-Pressesprecher, drückt sich den Bauhelm auf das Haupt, stolpert über Leitungen und Schutt, aber wischt die Bedenken ebenso wie den Schweiß beiseite: „Wir schaffen das – jedenfalls streben wir es an.“ „Best of Art“ ist für ihn die Dachkonstruktion, „voller Leichtigkeit“ die helle Zelthaut, und die Sanierung einer „Ikone der Architektur“ war überhaupt das Größte.

In der Tat haben die Firma sowie das Architektenteam nicht schlecht gearbeitet. Die Rekonstruktion der Fassade war vielleicht noch der einfachste Part. Die bröckelnden Träger von 1936 wurden erneuert, die losen Sandsteinverkleidungen mit dem gleichen Material ersetzt und die Umkleiden in der Tiefe der Arena modernisiert.

Viel schwerer war, dass das denkmalgeschützte Stadion in seiner Gestalt nicht wesentlich verändert werden durfte – und trotzdem neu sein und den Anforderungen der Fifa für die Weltmeisterschaft 2006 entsprechen sollte. Hinzu kam, dass der Umbau „bei rollendem Ball“, also während der Bundesligasaison vom Klub Hertha BSC, stattfinden musste. Und das drei ganze lange Spielzeiten – 2001 bis 2004, sagt Görbing. Weil Fußball heute Teil einer hedonistischen und medialen Kultur ist und die Zuschauer gut versorgt sehen und sitzen wollen, glich der Innenumbau zuerst einem Abriss, dann einem Neuaufbau. Stück für Stück, „Segment für Segment“, betont der Sprecher, wurden die alten Tribünen abgetragen, die Fundamente neu in Beton gegossen und Ränge für 76.000 Besucher ausgelegt. Das Stadion wirkt jetzt größer und steiler, haben doch Gerkan, Marg und Partner die Ränge des Unterrings in einem steileren Winkel konstruiert und durch die Tieferlegung des Rasens um zwei Meter fünfzig zusätzliche Sitzreihen erzielen können.

Im Vergleich zu den Arenen „Auf Schalke“ in Dortmund oder dem Frankfurter Waldstadion, die alle auf Laufbahnen für Leichtathleten verzichteten und und reine Fußballstadien bilden, verliert das Olympiastadion dennoch an dichter Atmosphäre. Das Dach und die Ränge schaffen ein Klima intimerer Innenräumlichkeit. Diese überwindet aber nicht – trotz der Korrekturen – die von March 1936 entworfene Anlage der sanft aufstrebenden Ränge als Fortsetzung der Natur.

Wenn alle Kabel verlegt sind und man nicht mehr über die unverschraubten Bänke fällt, werden die Medienvertreter zwar in einem neu gestalteten Block über der Haupttribüne an Computertischen und vor einem modernen Backstagebereich für Interviews sitzen. Gute Weitsichtigkeit aber bleibt gefragt.

Nicht besser geht es den gut betuchten Zuschauern, die in den „Ein Zimmer“-Logen untergebracht sind, welche in den Wandelgang zwischen Ober- und Unterring gesteckt wurden. Hier werden dafür Drinks gereicht in holzgetäfelten, dunklen Räumen. Raumhoch verglast blickt man hinunter auf den Rasen, und wem das alles zu weit entfernt ist, dem wird in Vergrößerung und Slowmotion geholfen: Zwei neue elektronische Anzeigentafeln werden just über den Geraden montiert.

Seele der Anlage bleibt das moderne Dach, das über dem alten Stadion schwebt – und über das man einmal ähnlich reden wird wie über die Hightech-Kuppel über dem Reichstag. Dass jenes Dach zu Streit geführt hat, ist heute schon vergessen. Um die Sicht durch das Marathontor auf das Maifeld nicht zu versperren, so der Berliner Denkmalschutz, durfte der Dachkranz nicht geschlossen werden. Aus bautechnischen Gründen waren darum vereinzelte Stützen nötig. „Neues Dach versperrt die Sicht“, titelten 2001 die Gazetten – um heute klaglos von dort oben über die Fußballakteure zu berichten.

Viel nachhaltiger wirken andere Dinge: Wie beinahe jedes Berliner Bauwerk ist auch der Umbau des Olympiastadions nicht resistent gegenüber Kostenexplosionen. Waren es 2002 giftige Schadstoffe, die im alten Gemäuer gefunden wurden und deren Entsorgungskosten Walter-Bau nicht übernehmen will, so gibt es jetzt erneut Ärger. Die Kosten werden sich wegen der neuen Fifa-Auflagen für die Fußball-WM 2006 um 3 bis 5 Millionen Euro erhöhen. Diese Summe soll das Land zusätzlich zu den 250 Millionen Euro Baukosten für ein elektronisches Ticketsystem und einen weiteren Pressebereich zahlen. Während die meisten anderen Fifa-Anforderungen, etwa bei den Tribünen und dem VIP-Bereich, erfüllt sind, kommen außerhalb des Stadionbereichs noch weitere Kosten auf das Land zu. So wünschen sich die Fifa und das nationale Organisationskomitee große Zeltanlagen für Sponsoren und zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen. Hierfür dürften für das Land nochmals bis 15 Millionen Euro anfallen, schätzen Insider. Genau das alles will das Land auf den Bauträger abwälzen, der sich für die schlüsselfertige Übergabe verpflichtet hat. Doch Walter-Bau denkt nicht daran, zusätzlich nötige Investitionen zu übernehmen.

Man trage das Spiel vor Gerichten aus, sagt Görbing. Dann blickt er wieder nach oben, nicht zum Himmel, der vielleicht helfen könnte bei den Problemen, sondern zum Dach der Arena. Das Rund schweigt, drückt etwas auf die große Schüssel und hält sich trotzdem ganz leicht.