Schreie aus der Anstalt

Sybille Fabian inszeniert am Dortmunder Theater einen Einblick in den White Cube einer Psychiatrie. „März, ein Künstlerleben“ von Heiner Kipphardt basiert auf einer realen Lebensgeschichte

Ich spürte als junger Mensch, dass in mancher Psychose ein menschlicher Entwurf anderer Art steckt.

VON PETER ORTMANN

Alexander März ist Künstler. Er lebt in einer „Kathedrale des erotischen Elends“. So nannte Kurt Schwitters (1887-1948) seinen MerzBau, eine begehbare Collage aus Kunst und Kitsch, Sinn und Unsinn. Das Gotteshaus, in dem der Literat März lebt, ist die geschlossene Abteilung einer Psychiatrischen Klinik. Er ist paranoid schizophren, aus dem wahrgenommenen Un-Sinn baut er sich seine Lebenswelt.

Die geschlossene Abteilung, in dem März mit drei Leidensgenossen untergebracht ist, ähnelt einem musealen White Cube. Utensilien des täglichen Bedarfs sind als serielle Installation an die Wänden gehängt. Der Raum hat eine Bühne auf der Schnee weißen Bühne, wo zwei Ärztekarikaturen ihre Patienten dressieren und ohne Ergebnis versuchen, deren Phantasien zu ergründen. Das Ergebnis ist am Theater und in den realen Anstalten identisch: Psychopharmaka, Gewalt – ruhig stellen.

Sybille Fabian hat im kleinen Studio des Theaters Dortmund ihre Fassung von „März, ein Künstlerleben“ inszeniert. Der Arzt Heinar Kipphardt, der selbst einige Jahre in der Psychiatrie gearbeitet hat, lieferte dafür mit seinem Roman „März“ die Vorlage. Ihn ließ die Frage nach Wahn und Wirklichkeit nicht ruhen. „Mich hat die Abweichung angezogen, und ich spürte als junger Mensch, dass in mancher Psychose ein menschlicher Entwurf anderer Art steckt,“ sagte er.

Die wahre Lebensgeschichte des schizophrenen Dichters Ernst Herbeck, der 45 Jahre seines Lebens in der Anstalt verbracht hat, war der Auslöser. Herbeck kommunizierte über merkwürdig kunstvolle Gedichte, die ihm Aufmerksamkeit und einen Besuch vom Dichterkollegen Ernst Jandl bescherten. So wurde er ein Adolf Wölfli der schreibenden Zunft.

Fabian zwingt ihre Schauspieler auf der Dortmunder White Cube Bühne zu der 90 minütigen Dauerperformance: Wie stelle ich den Wahnsinn dar. Keine leichte Aufgabe. Manches wirkt ungewollt hypertheatral, anderes lässt realitätsbewusste Zuschauer eine dunkle Ahnung davon bekommen, wie unglaublich traurig die klinische Verwahrung für Geister sein muss, deren Welt nicht die unsere ist. Musikalischer Dauerstress quält zusätzlich hervorragend Protagonisten und Besucher. Die Frage nach dem geistigen Gegenentwurf der „Patienten“ geht im Versuch, dem Thema mit einer skurrilen Überzeichnung der behandelnden Ärzte Humor entgegenzusetzen, etwas unter. Die Choreografie des Wahns nimmt zu viel Raum ein, was einige der Zuschauer auf ihren Plätzen notwendigerweise unruhig werden ließ. März (Harald Schwaiger) bewahrt sich seine Träume. Einer ist die Flucht mit Hanna. Zusammen finden sie einen Weg ihre fernen Planeten im Weltraum anzunähern. Doch als die Aktivitäten der beiden zu real werden, die Auswirkungen auf einen geregelten Vollzug der Leben schwierig wird, muss März diese Abteilung der geschlossenen Anstalt verlassen. Ruhe und Ordnung und die Freizeit fürs Personal stehen den unverstandenen Gehirnwindungen der Gegenwelt-Menschen im Wege. Unsere Realität siegt eben auch im Theater.