Essen als Weltentwurf

Kochen ist Kunst, die inszenierte Speisegesellschaft eine Plastik, die Speise ein Bild. Der Hannoveraner Plastiker Dieter Froelich tourt mit seinem „Gastmahl der Restauration a.a.O.“ durch Norddeutschland. Die Zutaten: Ein VW-Bus, Gaskocher, Heilsarmee-Töpfe

Pelzig gekleidet, durchglüht von einem rosa Schimmer, wabbelt die Zunge auf dem TellerEssen hat immer etwas Heimatspendendes, gibt Sicherheit in einer atomisierten Welt

von Jens Fischer

Ins Bläuliche schimmert das Grau, durchglüht von einem rosa Schimmer. Farblich höchst attraktiv wabbelt sie auf dem Teller, die ellenlange Rinderzunge, gekleidet in ihre pelzige Hülle. Herab sabbert noch die Brühe, in der das Fleisch gekocht wurde. So dass Assoziationen vom ehemaligen Arbeitseinsatz dieses Organs nicht zu vermeiden sind. Wie sie beim Wiederkäuen durch den Blasen schlagenden Speichel schlabbert . . .

Je jünger der Betrachter dieser Speise ist, desto eher bedingt ein diffuses Ekelgefühl die Einstellung der Speichelproduktion: Appetitverweigerung. Je älter der Betrachter, desto eher bedingt ein diffuses Gourmetgefühl die vermehrte Speichelproduktion: Appetitanregung. Zartes saftiges Soft-Fleisch. Von einem Schlachtermesser mit präzisen Schnitten in hauchdünne Scheiben tranchiert, dann rosettenartig auf dem Teller platziert – beim „Gastmahl der Restauration a.a.O.“.

Eingedeckt ist typisches Seminarmobiliar in einem der endlosen Flure des Hafenspeichers XI, Bremens Hochschule für Künste. Der Hannoveraner Plastiker Dieter Froelich (Jahrgang 1959) möchte zeigen: Kochen ist Kunst, die inszenierte Speisegesellschaft eine Plastik, die Speise ein Bild. Aber der Reihe nach. Erst einmal den erfrischenden Aperitif.

Weizenwasser. Getreidekörner in Wasser aufgekocht, abgesiebt, entstärkt, gezuckert, ein Schuss Zitronensäure hinzu. Leicht gekühlt serviert.

Die „Restauration a.a.O.“ (am angegebenen Ort) ist ein mobiles Lokal, das aus Froelichs VW-Bus bestückt wird. So kann überall vorgefahren werden, wo sich Freunde rustikaler Küche versammeln. Gaskocher, Heilsarmee-Töpfe, design-verwirrte Besteck- und Geschirr-Sammlungen werden benutzt: alles auf Flohmärkten zusammengefeilscht, vor Polterabenden gerettet, aus Nachlässen abgestaubt – und wieder nutzbar gemacht. Um dann – sehr hübsch – das a.a.O.-Logo einzubrennen, einzuritzen, draufzudrucken. Das ist Froelich wichtig: „Restauration bedeutet Wiederherstellung.“ Auch bei seiner Art des Kochens. Längst vergessene Gerichte gilt es sinnlich vor Augen, Nase und in den Mund zu führen.

Wo immer das Gastmahl gereicht wird, erforscht Froelich vorab die regionale Küche. Und liegt damit voll im Trend der Sternekochkunst, die nach der Exotik und Nouvelle Cuisine die Reize der ländlichen Küche entdeckt hat. „Essen hat immer etwas Heimatspendendes, gibt Sicherheit in einer atomisierten Welt“, sagt Froelich.

Aber an der Weser blieb seine Recherche vergeblich. „Eine Bremer Küche gibt es nicht“, resümiert der Künstler. Kohl und Pinkel, Knipp, Stinte? „Auch wenn der Grünkohl hier Braunkohl heißt, wird er genau so auch im Braunschweigischen und in Westfalen gegessen.“ Ebenso würden Pinkel-Würste aus Getreidegrütze und Rinderfett überall dort serviert, wo – soziologisch gesehen – „arme Würstchen leben, man also wenig zu Essen hat“. Und der zur Familie der Lachse gehörende Stint sei in allen nördlichen Gewässern verbreitet, weswegen er auch nicht nur in Bremen verspeist würde. Labskaus, Klaben, Kluten, Kükenragout? „Hat alles keinen Anspruch auf Bremer Exklusivität“, so Froelich. Unterschiede zwischen Regionalküchen seien vor allem sprachlicher Natur. „Was hier Pudding heißt, nennt man in Schwaben Lumpenknödel.“

Trotzdem restaurierte Froelich fünf vergessene Rezepte seiner vergleichenden Kochbuchforschung für das Gastmahl.

Eiereinlaufsuppe. In geschmacksneutraler Brühe verquirltes Ei ausflocken lassen.

Beim Experimentalfilmer Peter Kubelka an der Frankfurter Städelschule hat Dieter Froelich Kunstkochen studiert, das Gegenteil zu Kochkunst: gekocht wird das Kunstwerk, nicht das Kochen als Kunst zelebriert. Froelich hasst Schabernack. Dadaistisches Hodenschaschlik, eine aus Augen, Euter und Spermasaft gekochte Surrealistensuppe, zu abstrakter Kunst gruppierte Vorspeisenteller der Gourmettempel, Daniel Spoerris „Eat-Art“, Nitschs Orgienmysterientheater. „Alles manieriert“, meint Froelich. Statt dessen gibt er als Vertretungsprofessor für Plastik in der Studienrichtung Bildende Kunst an der Fachhochschule für Design und Medien in Hannover lieber Seminare im Blutwurstkochen.

Als Kochgruppe aber will er das nicht verstanden wissen. Und sich selbst schon gar nicht als „Koch“ titulieren lassen. „Ich hab das extra nicht gelernt, weil ich weiß, dass beispielsweise ausgebildete Steinmetze immer schlechte Steinbildhauer werden.“ Was spricht gegen das Kochhandwerk? „Kochen als Kunst meint eben nicht das unselige Dekorieren einer Speise mit dem obligaten Salatblatt, dem Tomatenschnitz oder den überpuderten Dessertteller. Es meint auch nicht eine Kreativität im Zubereiten oder gar Erfinden von Speisen.“ Im Kunstkochen gehe es um die Errichtung eines Gedankengebäudes, das sich generiert, Eigenleben entwickelt – zu Bildern formiert. „Bilder im Sinne von Vorstellungen, Erwartungen und Utopien“, so Froelich. Bilder, die von Bildern oder Speisen evoziert werden. „Ein Brei aus Kartoffeln, Butter, Sahne und Gewürzen auf einem Teller“ sei eine ebensolche visuelle Kunst, „als ein Brei aus Pigmenten, Bindemitteln und Füllstoffen auf einer Leinwand.“

Jede Nahrungszubereitung könne so auch Formulierung von Weltverständnis sein. Man ist, was man isst. „Ein Blumenkohlparfrait unter der Kaviarhaube mit sautiertem Rochenflügel ist ein anderer Weltentwurf als sauer gekochte Schweinswurst.“

Das Bild der Zunge hat für Froelich eine besondere Bedeutung: „Wenn wir Tiere zum Verzehr töten lassen, dann sollten wir sie auch aufessen und nicht nur die Filets herausschneiden.“ Die Zunge also ein Bildappell für die verantwortungsvollere Nutzung unserer natürlichen Ressourcen. Nun hinunter mit ihr. Dabei hilft ein köstlicher Senf, der mit Pflaumenmus und Essig breiig zugerichtet wurde. Auf dem Tisch steht ein schlichter 2002er Corbières. Zuvor aber noch der kulinarische Höhepunkt (ehrlich!).

Stockfischpudding. Also ein halbes Pfund luftgetrockneten Kabeljau kochen, enthäuten, hacken. Hinzu „thut man 1 1/2 Pfd. geriebenes Weißbrot, 1/2 Pfd. Butter, 6 Löffel voll süßem Rahm, 8 Eier, gehackte Petersilie und gestoßene Muscatblüthe. Darauf bindet man die Masse in ein Tuch, und kocht sie“ (aus „Das Bremische Koch- und Wirtschaftsbuch“ von Betty Gleim, 1808). Dazu: Kapern in geschmolzener Butter.

Das Publikum legt derweil die Befangenheit ab, gibt sich Froelichs Lust an der stofflichen und intellektuellen Transformation des Materials hin. Neugierig, das „Fremde im Eigenen zu entdecken“. Etwa das Befremden, in unserer cremig-süßen Welt der Dr.-Oetker-Nachspeisen mit einem Mandelsulz konfrontiert zu werden. Regenbogenbunt gefärbt ist er, schmeckt aber – wie mit Wasser verdünnter Schmand, gelatinös schnittfest gemacht und mit einem Hauch Nussaroma versetzt. Fade im Quadrat. Zum Schreck gibt’s ordentlich(en) Weizendoppelkorn. So lässt man sich Kunstgenuss wieder gefallen.

Kontakt, Termine, Menüfolge: www.restauration-a-a-o.de