Sicher auf Stroh gebaut

Das altmärkische Ökodorf Sieben Linden expandiert. Die Wohnungsgenossenschaft avanciert zum bundesweiten Vorreiter für die reguläre Errichtung mehrgeschossiger Strohballenwohnhäuser

VON HARALD LACHMANN

In Jahren, die weniger trocken sind als das letzte, herrscht in der deutschen Landwirtschaft ein Überschuss an Stroh. Jeder fünfte Ballen bleibt laut Statistik agrarisch ungenutzt. Es könnte also anderweitig zum bäuerlichen Umsatz beitragen – wenn man nur wüsste, wofür es sich nutzen ließe. „Beispielsweise für 350.000 Einfamilienhäuser, sofern man diese nicht aus Beton oder Kalk hochzieht, sondern in der sehr kostengünstigen Strohballenbauweise“, behauptet Eva Stützel. Eine mutige These?

Da die 39-Jährige dem Vorstand einer Wohnungsgenossenschaft angehört, sollte sie wissen, wovon sie spricht. Dass sie zudem im bundesweit geschätzten Ökodorf Sieben Linden in der Altmark zu Hause ist, verstärkt fraglos ihre Glaubwürdigkeit: Denn einerseits lebt hier bereits eine Hand voll ambitionierter Alternativbauer in einem zweistöckigen Wohnhaus, das sie eigenhändig aus Waldholz, Baustrohballen mit Abmessungen von 41 mal 29 mal 80 Zentimetern sowie Lehmputz errichtet haben. Zum anderen wuchsen die verbauten Getreidehalme gleich nebenan auf Bandauer Fluren. So beobachtet man in der hiesigen Agrargenossenschaft auch sehr interessiert die Aktivitäten im Ökodorf.

Auch ihre weitere Zukunft wollen die Sieben-Lindener bevorzugt auf Stroh bauen. „Strohpolis“ nennt sich das Projekt, mit dem sie nicht gleich eine Stadt aus Stroh und Lehm errichten, wohl aber ein dreistöckiges Gebäude für knapp 20 Bewohner. Nicht reine Ökobesessenheit sei hierfür der Antrieb, so Eva Stützel, die das Vorhanden koordiniert, sondern schlicht Zuzugsdruck aus allen deutschen Ecken. Denn in dem 1998 wieder belebten Waldweiler sind keine Aussteiger zu Hause, eher Visionäre, studierte Leute zumeist, die sich entschlossen haben, ihre Zukunft auch ohne manche Segnung der Moderne lebenswert einzurichten. Oft verdienen sie hier auch ihren Lebensunterhalt.

„Viele leben bei uns in Bauwagen. Doch wir wollen keine Bauwagensiedlung bleiben, sondern kostengünstig aus ökologischen Materialien Niedrigenergiehäuser bauen“, erzählt Stützel. So biete sich für ihre naturnah orientierte Gemeinschaft diese Bauweise geradezu an. Zumal in der Altmark. Denn im Rahmen eines bundesweit beachteten regionalen Entwicklungskonzepts richtet der Norden des Landes seine Agrar- und Verbraucherpolitik gezielt neu aus und will sich hierbei auch als Vorreiter für den Einsatz nachwachsender Rohstoffe profilieren. „Die veredelnde Reststrohnutzung als Baustoff wäre doch eine ideale Ergänzung für das landwirtschaftliche Innovationspotenzial der Region“, ist sich Eva Stützel sicher. Denn zwangsläufig erschließe sie den Bauern neue Einkommensquellen.

Vorerst scheitert alles jedoch an Gesetzesbarrieren wie an landläufiger Skepsis. Häuser aus Stroh gelten als kurzlebig, instabil, leicht entflammbar, anfällig für Schimmel und Nager. So existiert in Deutschland auch kaum Technik zur Herstellung von Baustrohballen. Genau hier setzt nun ein Projekt an, mit dem all jene Vorurteile aus dem Weg geräumt werden sollen. Innerhalb des „Regionen Aktiv“-Programms wird es sogar vom Bundesverbraucherschutzministerium gefördert.

„Strohballenbautechnik und Herstellung in der Altmark“ heißt das ehrgeizige Vorhaben, Stroh zwar nicht zu Gold zu spinnen, wohl aber als Baumaterial salonfähig zu machen. Denn zu den zugelassenen Baustoffen gehört es wohl in Dänemark und seit über 100 Jahren auch in den USA, nicht aber hierzulande. „Dabei lassen sich mit Strohballen auf einfache Weise sehr umweltfreundliche, regional produzierte Wohnhäuser, Stallungen und Lagerräume erstellen, deren Dämmung Passivhausstandard erreicht“, weiß der Lüneburger Architekt Dirk Scharmer. Der Diplomingenieur kann Getreidehalmen als Baumaterial reichlich Sinn abgewinnen. Er verweist auf garantierte Schadstofffreiheit, hohen Dämmstandard, ein sehr gutes Wohnklima, geringsten Primärenergieeinsatz (und damit CO2-Ausstoß), umweltverträgliche Herstellung und geringen Ressourcenverbrauch.

So betritt die Wohnungsgenossenschaft Sieben Linden nun gemeinsam mit Bandauer Landwirten, dem von Scharmer geleiteten Fachverband Strohballenbau Deutschland sowie der Bundesforschungsanstalt für Landwirtschaft (FAL) in Braunschweig Neuland: Sie errichtet das erste regulär genehmigte dreigeschossige Strohballenwohngebäude zwischen Nordsee und Alpen. Am Gründonnerstag war Richtfest.

Nebenher spinnen die Strohballenbauer in Sieben Linden schon an einem regionalen Netzwerk von Planern, Landwirten und Handwerkern, um in der Altmark eine kooperative Strohballenhausproduktion aufzubauen. Man erhofft sich touristische Effekte, erwartet neue Jobs. Geplant sind auch Tests zu geeigneten Getreidesorten und Anbauweisen, die eine konstante Qualität sichern.

Die bundesweite Ausstrahlung des Vorhabens ist denn auch beträchtlich. Seit den ersten Strohballenbau-Seminaren 2002 lockte es dutzende Fachleute und Selbstbauinteressenten auf die Lernbaustelle in Sieben Linden. Einer der gefragtesten Dozenten ist dann Martin Stengel. Er zählt zu den Erbauern des Strohballenhauses im Ökodorf und richtet sich gerade das Obergeschoss wohnlich ein. Sein Klavier, an dem er Chorproben und Musikseminare in Sieben Linden vorbereitet, hat er bereits zwischen Fachwerkbalken und Lehmputzwänden platziert. Es sei schon ein irre gutes Gefühl, gesteht der 38-jährige Ingenieur vom Bodensee, sich nicht nur ein eigenes Haus gezimmert zu haben, sondern auch so im Einklang mit der Natur zu leben. Auch wenn er nun mit dieser Erfahrung, wie er gesteht, manches noch anders und besser machen würde.