„Niemand ist aus freien Stücken Hitler“

Wo Strafe ist muss Therapie werden: Der Bremer Hirnforscher und Philosoph Gerhard Roth plädiert für eine fundamentale Revision des Rechts – weil das Konzept Schuld nicht haltbar ist. Es setzt einen freien Willen voraus. Aus Sicht der Neurobiologie ist dieser jedoch eine Fiktion

Wenn man bestraft, fühlt man sich besser. Jemanden bestrafen heißt, Macht über ihn auszuüben

INTERVIEW BENNO SCHIRRMEISTER

taz: Herr Roth, was zwingt Sie zu diesem Gespräch?

Gerhard Roth: Das naturwissenschaftliche Glaubensbekenntnis lautet: Der Mensch wird, außer durch Zufall, dessen Ausmaß wir nicht kennen, durch Motive getrieben. Es gibt bewusste Motive – zum Beispiel, dass ich gerne solche Fragen beantworte – und unbewusste: Etwa ein Drang zur Selbstdarstellung, hinter dem dann möglicherweise wieder andere Motive stecken, etwa eine problematische Mutterbindung und Ähnliches. Von daher würde ich sagen, dass ich freiwillig mit Ihnen rede …

… also gibt es den freien Willen doch?

Wenn man darunter versteht, dass ich mich auf das Gespräch überlegt eingelassen oder die Verabredung wenigstens nachträglich für gut geheißen habe – ja. Das wäre aus meiner Sicht ein praktikabler Begriff von Willensfreiheit. Was dagegen ein motivloses Handeln wäre – kann Ihnen eben niemand sagen. Dabei ist genau das in der Kantischen Ethik Voraussetzung für das Gute: Das Gute, das aus persönlichen Motiven getan wird, ist bei Kant nicht gut.

Aber das stimmt nicht?

Das würde auch jeder Psychologe so sagen: Niemand tut etwas ohne Motive, die meiner Person entstammen, auch der Entschluss, rational zu handeln.

Dann wäre die Aufregung um Ihre Kritik am Konzept des freien Willens nur ein Irrtum und völlig unverständlich?

Das glaube ich nicht. Sie beruht sicher auf Missverständnissen. Aber sie ist verständlich. Wenn ich jemandem sage, ich habe noch keine Ahnung, was ich heute Abend um 21 Uhr vorhabe, und der antwortet: ‚Ätsch, ich weiß aber genau, für was du tun wirst, du trinkst ein Glas Rotwein‘ – dann würde mich das persönlich sehr unangenehm berühren.

Sie würden also nichts trinken …?

… oder ein Glas Weißwein, aus Widerspruchsgeist. Die Vorhersage hätte also meine Motivlage verändert – weil sie ein Eingriff in die Welt ist. Von daher halte ich einen Pan-Determinismus, der das Geschehen vom Urknall bis zum Ende der Welt für kausal ableitbar und dadurch für vollständig vorhersagbar hält, für eine falsche Vorstellung. Mein Philosophen-Kollege Michael Pauen und ich sprechen deshalb von einem Motiv- oder Aktual-Determinismus: Der besagt, dass ich in dem Augenblick, in dem ich handele, durch Motive bestimmt bin. Und dass ich, wenn ich eine Person lange genug studiere, ihre Motive erkennen und ihr Handeln voraussagen kann.

Dass der Wille nur relativ frei ist, ist auch im Strafrecht keine ganz fremde Vorstellung. Trotzdem plädieren Sie für fundamentale Änderungen?

Ja, und das halte ich für äußerst wichtig. Man müsste dafür beim Schuldverständnis ansetzen. Laut Paragraf 20 des Strafgesetzbuchs ist schuldunfähig, wer keine Einsicht in die Norm haben konnte – oder unfähig ist, nach dieser Einsicht zu handeln.

Und wo liegt das Problem?

Wir wissen mittlerweile, dass genau das bei einem Großteil der Schwerstverbrecher der Fall ist: Ihnen fehlt entweder die Einsicht, oder aber sie haben nicht die Fähigkeit, nach ihrer Einsicht zu handeln. Natürlich kommt es jedem kalt hoch, wenn man beispielsweise sagt: Hitler oder Stalin konnten nichts für ihre Verbrechen…

wohl wahr …!

… aber wenn man sich mit biographischen Details von Hitler und Stalin befasst, ist es ziemlich klar, dass es sich um extrem psychisch kranke Menschen gehandelt hat: Niemand ist aus freien Stücken Hitler.

Der Holocaust war eine geplante Tat. Und Planung bedeutet ja wohl auch Einsicht?

Ja. Der größte Teil der schweren Gewaltkriminalität wird durch zwei unterschiedliche Defizite ausgelöst: Der eine Typ, den wir vor allem bei jungen Männern beobachten, beruht auf einer teils erblich bedingten, teils frühkindlich erworbenen Übersensibilität für Bedrohung in Kombination mit einer mangelnden motorischen Impulshemmung. Die fühlen sich schnell bedroht – oft schon, wenn sie nur angeschaut werden – und schlagen zu. Anschließend tut es ihnen oft leid. Der andere Typus, der Psychopath, kann sich sehr gut beherrschen. Der kann auch erkennen, dass das, was er tut, böse ist. Nur er empfindet nichts dabei. Das, was wir Gewissen nennen, fehlt – es schweigt.

Das lässt sich messen?

Ja, indem man den Probanden grässliche Bilder zeigt, von Gewalt, beispielsweise dass jemandem langsam die Gurgel durchgeschnitten wird. Da ist der normale Impuls, wegzugucken – der sich als Erregungszustand im EEG (Hirnstrommessung) oder in der funktionellen Kernspintomografie darstellt. Bei den Impulsivtätern ist das nicht anders, aber bei Psychopathen fehlt diese Abscheu. Die betrachten das mit der Haltung: ‚Das ist aber interessant‘. Das sind überwiegend Männer – starke Gewaltkriminalität ist eindeutig ans männliche Geschlecht gebunden –, die oft als kleine Schulbuben oder sogar im Kindergarten bereits auffällig geworden sind und denen eine moralische Instanz als Bremse fehlt: Dafür können sie allerdings nichts.

Aber lässt sich dieses Empathie-Gefühl nicht beeinflussen?

In begrenztem Maße. Es ist richtig, dass Hirnschäden und genetische Defizite meist allein nicht ausreichen, damit jemand zum Verbrecher wird. Zusätzlich sind diese Menschen oft als kleine Kinder schwer traumatisiert, etwa durch Misshandlungen, starke Vernachlässigung und Missbrauch.

So weit zur Analyse. Die Konsequenzen, die Sie vorschlagen, scheinen dagegen rustikal, etwa wenn Sie im Bild -Interview fordern, die Betroffenen diagnostisch zu orten und lebenslang wegzusperren …

Das ist absurd.

Stand aber da.

Den Text habe ich gelesen und autorisiert. Aber wenn das so geklungen hat, ist das ein Missverständnis: Da stehe ich eher auf der entgegengesetzten Seite. Zunächst einmal habe ich auch diesem Interview klargestellt, dass diese Menschen nichts dafür können – also die moralische Schuld wegfällt. Wenn aber der Kern des Verbrechens nur noch darin besteht, dass ein vielfältig determiniertes Handeln die Norm verletzt, dann darf man es nicht im üblichen Sinne bestrafen. Der rechtsstaatliche Grundsatz heißt: Keine Strafe ohne Schuld. Wichtiger ist deshalb die Therapie. Davon, dass er 15 oder 20 Jahre einsitzt, ist noch kein Mensch besser geworden.

Es ist allerdings auch nicht jede Therapie erfolgreich …

Wenn der Straftäter nicht therapierbar ist, und das ist er in vielen Fällen der Psychopathie, dann kann man ihn auch nicht einfach laufen lassen. Die sind gefährlich, und die Gesellschaft hat ein Recht, vor ihnen geschützt zu werden. Das liefe in der Tat auf eine lebenslange Sicherheitsverwahrung hinaus. Aber man hat auch bei den Psychopathen noch keineswegs alle Formen einer menschenwürdigen Therapie erprobt.

Willensfreiheit ist eine Hypothese. Ihr wichtigster Propagandist ist Immanuel Kant: „Wir nehmen uns […] als frei an“, heißt es in der Metaphysik der Sitten, „um uns […] unter sittlichen Gesetzen zu denken“. Er hat sie allen Anfechtungen gegenüber abgesichert: Frei ist der Wille nämlich nur in der Sphäre des Dings an sich, und damit Beobachtung, Beweis und Widerlegung so zugänglich wie Gott und die Unsterblichkeit der Seele (Kritik d. r. Vernunft, II. 2. 1). Anlass für diese Schutzmaßnahme gab es reichlich – denn die gegenläufige Annahme, dass es eine Freiheit des Willens nicht geben könne, prägt besonders die Luther’sche Theologie und das sensualistische Denken Humes und Condillacs. Empirisch fundiert hat sie versehentlich der US-amerikanische Physiologe Benjamin Libet: Er wollte 1979 beweisen, dass die bewusste Entscheidung, eine Bewegung auszuführen, der elektrophysiologischen Stimulation, sie durchzuführen vorausgeht – also die Bewegung eine Folge des Willens ist. Das Libet-Experiment belegt allerdings, wenn überhaupt, das genaue Gegenteil: Erst fängt der Körper an zu handeln, durchschnittlich gut 500 Millisekunden später beginnt das Bewusstsein, das dann auch zu wollen. Da die dabei getesteten simplen Bewegungsabläufe allerdings kaum Willensanstrengungen erforderten und keinerlei Möglichkeit zu einer freien Wahl gegeben wurde, korrigierten und erweiterten Patrick Haggard und Martin Eimer 20 Jahre später den Versuchsaufbau. Sie gelangten zum selben Ergebnis. BES

Aber präventiv? Jugendliche?

Davon kann nicht die Rede sein. Früherkennung im großen Stil bedeutet nicht, die Kinder wegzusperren. Dass man diejenigen, die auffällig werden, untersucht, um einer negativen Entwicklung vorzubeugen – da sehe ich nicht, was dagegen spräche.

Klingt nach Zwangsmedikation.

Im Gegenteil: Jeder hat das Recht auf eine adäquate Therapie.

die es in diesem Fall nur leider nicht gibt…?

Es gibt Therapiemöglichkeiten. Ich gebe zu, dass das noch schwierig ist. Aber: Viele Krankheiten, die man vor 50 Jahren für unheilbar beziehungsweise unbehandelbar hielt, sind heute gut behandelbar. Immer gilt jedenfalls: Je früher die Therapie ansetzt, desto besser. Das Gegenteil, tatenlos dabei zuzusehen, wie sich ein junger Mensch zum Gewalttäter entwickelt – das halte ich für menschenverachtend.

Das Verbrechen, eine Krankheit – mehrheitsfähig scheint die Position nicht: Wer die neuen Strafvollzugsgesetze der Länder kennt, sieht, dass der Therapie-Anteil rückläufig ist.

Das ist schlimm, denn die meisten Experten sind von der Nutzlosigkeit der bloßen Bestrafung als Abbüßen der Schuld überzeugt. Und ich gehe schon davon aus, dass sich das durchsetzt. Es gibt natürlich Widerstände: Kurzfristig wäre Therapie teurer. Und wenn ein Politiker härtere Strafen fordert, erhält er dafür viel Beifall. Die Forderung, nicht zu strafen, sondern zu therapieren ist dagegen unpopulär: Wenn man bestraft – oder bestrafen lässt – fühlt man sich besser. Jemanden bestrafen heißt, Macht über ihn auszuüben.

Wie soll sich das verflüchtigen?

Man hat ja früher – eigentlich noch in meiner Generation – auch Schicksalsschläge und Erkrankungen oft noch als Strafe Gottes oder des Schicksals angesehen – immer mit dem Gedanken: Wer weiß, was der angestellt hat. Vieles von dem, wo man früher eine persönliche Schuld unterstellt hat, wird heute als erblich und sozial bedingt verstanden: Drogensucht, mit den Rauchern muss man auch irgendwie Mitleid haben, Fettleibigkeit wird als Krankheit verstanden, ein Unfall bei riskantem Sport als Pech. Nur die Verbrecher sind noch selbst schuld. In 50 Jahren ist man vielleicht so weit, zu sagen: Es ist einfach irgendwie schlecht gelaufen bei denen, und zwar von Anfang an!

Michael Pauen, Gerhard Roth: Freiheit, Schuld und Verantwortung, Suhrkamp 2008, 190 Seiten, 10 Euro

Fotohinweis:GERHARD ROTH, 66, Professor für Neurobiologie und Direktor des Instituts für Hirnforschung an der Uni Bremen und Präsident der Studienstiftung des deutschen Volkes hat über Antonio Gramsci in Philosophie, über Probleme der Verhaltensforschung in Biologie promoviert. Als Gründer des Hanse-Kollegs Delmenhorst war er bis zur Emeritierung im vergangenen Sommer dessen Rektor. Zu seinen 24 Einträgen im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek zählen Standardwerke wie „Das Gehirn und seine Wirklichkeit“ (1994) oder „Fühlen Denken Handeln“ (2001).