Um Leben und Tod

Gerolsteiner-Sprinter Olaf Pollack ist entsetzt darüber,wie es auf der Zielgeraden der Tour de France zugeht

MEAUX taz ■ Plötzlich hatte Marcel Wüst einen Kloß im Hals. Als der Sprint der ersten Tour-Etappe in Meaux in seine heiße Phase ging, war der frühere Klasse-Spurter noch wehmütig geworden und hätte sich gerne wieder selbst mit dem späteren Sieger Alessandro Petacchi und Erik Zabel (3.) auf der Zielgeraden gebalgt. Doch als dann 350 Meter vor Ende der Spanier Gutiérrez mit 70 km/h in ein Absperrgitter rauschte und die hinter ihm herrasenden Fahrer wie von einem Katapult geschleudert durch die Luft flogen, war Wüst froh, dass er dort saß, wo er saß: vor dem Fernseher. Fatal erinnerten Wüst die Bilder an den Sturz, der ihm vor zwei Jahren das Licht des linken Auges und beinahe das Leben gekostet hatte.

Vor dem TV-Gerät hätte auch Olaf Pollack lieber gesessen. Der Sprinter vom Team Gerolsteiner hatte sich seine erste Tour-de-France-Etappe wahrlich anders vorgestellt. Kreidebleich war Pollack, als er mit einer Viertelstunde Verspätung am Mannschaftsbus ankam, so wie ein Rekrut nach seinem ersten Gefecht. Er selbst hatte einen Sturz gerade noch vermeiden können und war geschickt um die Karambolage direkt vor seinem Vorderrad herumgesteuert. Den Anschluss hatte er dadurch jedoch verloren, aber das war ihm zu diesem Zeitpunkt auch nicht mehr wichtig. Der Eindruck von blutenden, sich windenden Kollegen auf dem Asphalt, zum Teil mit schweren Verletzungen wie bei Tour-Mitfavorit Tyler Hamilton, der sich das Schlüsselbein brach, mit Gesichtswunden wie bei Andreas Klöden von Telekom und gebrochenen Hüften wie beim Amerikaner Levi Leipheimer, hatte Pollacks sportlichen Ehrgeiz erst einmal verdrängt. Pollack gab sein Rad an seinen ebenfalls gestürzten Kapitän Davide Rebellín weiter und trug dessen demolierte Rennmaschine zu Fuß ins Ziel.

Als Pollack am Mannschaftsbus ankam, musste er erst einmal seiner Wut Luft machen. „Anscheinend geht es hier um Leben und Tod“, platzte es aus ihm heraus. „Mit Fairness hat das nichts mehr zu tun“, schilderte er die Erlebnisse des ersten Tour-de-France-Tages seines Lebens. „Da wird mit Händen und Füßen gearbeitet“, schimpfte er über seine Kollegen, die er für „offenbar lebensmüde“ hielt.

Marcel Wüst hingegen, der in seiner Karriere etliche große Rundfahrten bestritten hat, sah am Verlauf der Etappe nichts Außergewöhnliches: „Das kann immer und überall passieren.“ Allerdings bestätigte er, dass die Fahrer bei großen Rundfahrten wie der Tour ein viel höheres Risiko eingehen als bei anderen Rennen: „Wenn sich etwa bei der Deutschland-Tour eine Lücke auftut“, so Wüst, „überlegt man vielleicht, ob man da reinhält.“ Sprich: Wenn sich zwischen zwei Fahrern vor einem ein Spalt von ein paar Zentimetern ergibt, denke man bei weniger bedeutenden Rennen darüber nach, ob man sich mit 70 Stundenkilometern da durchzwängt. „Bei der Tour“, sagt Wüst, „denkt man nicht nach.“

Die Tour de France ist nach wie vor das Radsportereignis überhaupt, von der Medienaufmerksamkeit ist sie ohnehin unübertroffen. Mit einer guten Platzierung, einer spektakulären Aktion oder gar einem Tagessieg kann ein Rennfahrer seiner Karriere eine bedeutende Wendung geben. Für die Fahrer, die nicht um den Gesamtsieg fahren – und das sind die meisten – steht jeden Tag alles auf dem Spiel. So hat die Allgegenwart der Kameras die Tour von Grund auf verändert: „Die Fahrer risikieren alles für sehr wenig“, sagt Laurent Jalabert, der sich bei einem Sturz im Sprint einst zwei Wirbel brach und daraufhin das Sprinten aufgab. „Sie wollen zehn Sekunden gewinnen und verlieren am Ende alles.“

Auch Erik Zabel glaubt, dass die Tour deutlich hektischer geworden ist. Die Etappe vom Sonntag, fand Zabel, der seine zehnte Tour fährt, sei von Anfang an so nervös gewesen wie ein Finale. Schon Stunden vor der Zielankunft stritten sich dutzende von Fahrern um die beste Ausgangsposition für einen Sprint: Alle hatten Angst, dass sie in dem Moment, in dem die entscheidende Attacke, der entscheidende Antritt kommt, eingeklemmt oder abgeschlagen sein könnten.

Olaf Pollack hat aus seinem ersten Tour-Tag eine Lehre gezogen. „Ich bin nicht lebensmüde“, sagt er. Und auch, dass ihm ein Tagessieg nicht Leib und Leben wert sei. Das ist schlau, ob er mit dieser Einstellung aber auch Erfolg haben kann, ist fraglich.

SEBASTIAN MOLL