Rendezvous mit Frankreich

Die Tour de France verkörpert die bleibenden Werte des Landes. Sie weckt Erinnerungen, bringt nationale Helden hervor und verknüpft die einzelnen Landschaften zu einem großen Ganzen

aus Paris DOROTHEA HAHN

Einen Helden auf dem Rad hat jedeR in Frankreich. Zuletzt war es Virenque, der Gedopte, der sich erwischen ließ und dem gar nichts anderes übrig blieb, als zu gestehen. Die Franzosen sind ihm treu geblieben. Sie haben Richard Virenque auch dann noch zugejubelt, als seine Equipe und seine Sponsoren ihn längst fallen gelassen hatten.

Vor ihm war es Poupou. „Vas-y Poupou!“, haben ganze Generationen in den 60ern und 70ern gerufen. Mit einem Glas Appéro in der Hand, in einem gegen die Sommerhitze abgedunkelten Wohnzimmer, auf ein Sofa gefläzt. Oder irgendwo in der französischen Landschaft. Auf einem Bergpass möglicherweise, wo sie sich schon früh am Morgen positioniert hatten. Dabei hat auch Raymond Poulidor nie die Tour de France gewonnen. 14-mal ist er mitgefahren, fünfmal Dritter, dreimal Zweiter geworden. Zwei Jahrzehnte danach sind die meisten seiner Widersacher in Vergessenheit geraten. Oder Opfer des schlechten Rufes geblieben, den sie bereits zu ihren Hoch-Zeiten hatten. Wie der fünffache Toursieger Jacques Anquetil, über den es heute noch heißt: „Er hat Poupou den Sieg geklaut.“ Und dass er gedopt gewesen sei. Der „Beweis“? Poupou lebt immer noch. Anquetil ist jung gestorben.

Viele Jahre vor ihm liebten sie René Vietto, der in einer großen Geste seinen Reifen abmontierte und dem Spitzenreiter gab. Anschließend vergoss er Tränen und verlor zehn Minuten, bis ihm ein Ersatzreifen gebracht wurde. Die Tour hat auch Vietto nie gewonnen. Doch seine Landsleute verehren ihn bis heute.

Die Tour de France ist mehr als Sport. Sie verkörpert die bleibenden Werte von „La France profonde“ – des tiefen Frankreichs. Und sie ist ein alljährliches Rendezvous mit der Vergangenheit. Wenn die Tour beginnt, lehnen sich die Franzosen zurück und erinnern sich. An ihre Kindheit. An die Sommerferien auf dem Lande. An vorbeiradelnde Helden, die sie zur Erfrischung mit Wasser bespritzt haben. An das erste Fahrrad, das sie zu einer bestandenen Prüfung bekommen haben. Und an den Onkel im Dorf, der allein zu einem Sommerball fuhr und mit einer Braut zurückkam, die auf der Stange saß. Im Amazonensitz.

Zugleich führt die Tour alljährlich tief in die Geschichte des Landes. Wenn die Radfahrer die Provinzen Frankreichs durchqueren, sprechen die ZuschauerInnen am Wegrand und vor den Bildschirmen darüber, was sich in ihren Landschaften, ihren Industrien und ihren Kulturen tut. Und was sich geändert hat. Und wie schön das Land ist. Dabei kommt vieles andere zum Erliegen. Die Politik, die Streitereien und die Arbeit. Für die Franzosen ist die Tour die Gelegenheit, ihr Land Revue passieren zu lassen. Eine Bestandsaufnahme zu machen, bevor sie das aktive Jahr beenden. Wenn die Radfahrer die letzte Strecke auf den Champs-Élysées hinter sich gebracht haben, versinkt Frankreich im Hochsommerschlaf.

„La grande boucle“ ist der zweite Name der Tour – die große Schleife. Sie brachte ein nationales Kollektiv zusammen. Ein Volk, das gemeinsamen Helden zuschaut und das vergisst, was es trennt. Schon vor 100 Jahren war die erklärte Absicht des Erfinders, die Tour solle „apolitisch“ sein, und: „patriotisch, moralisch und pädagogisch“. Mit dieser Maßgabe initiierte der zum Journalisten und Unternehmer gemauserte frühere Radfahrer Henri Desgrange 1903 die Tour. Da war das Fortbewegungsmittel Fahrrad noch neu. Der Markt dafür steckte noch in den Anfängen. Aber die Fabrikanten schickten sich schon an, ihre künftige Kundschaft zu umwerben. Und auf dem Zeitungsmarkt konkurrierten zwei Blätter um die Freunde des Radsportes.

Das eine Blatt, Vélo, gehörte politisch in das Lager der Dreyfusards, die wenige Jahre zuvor bei dem größten politischen Skandal des auslaufenden 19. Jahrhunderts Partei für den fälschlicherweise wegen Spionage verdächtigten jüdischen Militär Dreyfus ergriffen hatten. In Konkurrenz zu ihnen hatte Desgrange 1902 sein Blatt Auto gegründet. Kleinere Radtouren gab es bereits. In England und auf dem Kontinent. In Frankreich vor allem „Paris – Roubaix“ und „Bordeaux – Paris“. Aber die Tour de France war die erste Schleife, die ein ganzes Land umwickelte.

Sie war zugleich eine geniale Marketing-Idee für eine Zeitung. Die Konkurrenz hielt nicht lange stand. Während Vélo unterging, florierte die Tour und mit ihr Auto. Jedes Jahr dachten sich die Organisatoren etwas Neues aus, um die Rundfahrt und ihr Blatt zu promoten. 1914, bei der letzten Tour de France vor dem Ersten Weltkrieg, lancierten sie das gelbe Siegertrikot. Dieselbe Farbe schmückte die Zeitung. Nach dem Zweiten Weltkrieg, während dem die Tour erneut für mehrere Jahre unterbrochen wurde, verschwand zwar das Blatt Auto, das sich ohne jeden Widerstand dem Kollaborateursregime von Marschall Pétain untergeordnet hatte. Aber die Blattmacher gründeten umgehend einen Ersatz: L’Equipe, das bis heute floriert. Und die Tour ging weiter.

Zum hundertsten Geburtstag der großen Schleife haben in diesem Sommer sämtliche französischen Medien broschierte Sonderausgaben auf den Markt gebracht. Und die Fernsehanstalten mobilisieren ihre bekanntesten ReporterInnen. Für die Franzosen ist es beim Alten geblieben: Die Tour führt sie in die Tiefen ihres Landes zurück. Und sie radelt den Hochsommer ein.