Wenn Mutti mutiert

Hype Williams ist einer der wichtigsten Videoregisseure unserer Zeit. Arte geht seiner Arbeit mit der Doku „Superhuman“ auf den Grund (23 Uhr)

von CHRISTIAN BUSS

Wenn ein Video von Missy Elliot läuft, dann flimmert nicht einfach das Konterfei der Künstlerin über den Bildschirm – es springt förmlich heraus. Der Trick dahinter mutet erst mal ziemlich primitiv an: Sie wird schlicht und einfach mit Weitwinkel gefilmt, deshalb scheint ihr Kopf aus der Glotze herauszuragen. Ihre furchteinflößende Wirkung entfalten die Clips aber vor allem durch die umfassende digitale Aufbereitung: Wenn die mächtigste Frau des HipHop mit den Wimpern schlägt, findet das in jedem einzelnen Pixel eine Entsprechung. So wie Ton und Bild zur Einheit werden, verschmilzt die Sängerin mit dem Video.

Ausgetüftelt hat dieses hypersynchrone Zusammenspiel der Regisseur Hype Williams. Sein Denken ist wie das von Missy Elliot digital geprägt: Er zerlegt Bildinformationen in ihre kleinsten Teile, um sie neu zusammenzufügen. Der Manipulation sind keine Grenzen gesetzt. Auf diese Weise konstruiert er die visuelle Entsprechungen für den rythmischen Wahnsinn von Elliot oder auch von Busta Rhymes. Dass Williams nebenbei dann auch noch Kunstwelten erschafft, die den Vergleich mit Cameron oder Verhoeven, den inzwischen leicht angeschlagenen Hightech-Fabulierern von Hollywood, nicht zu scheuen brauchen, hat den jungen Afroamerikaner zum einflussreichsten aller Videoregisseure gemacht.

In seiner Doku „Superhuman“ beleuchtet Christoph Dreher das Schaffen des Wunderkinds, ohne dabei allzu sehr auf O-Töne zu setzen. Missy Elliot und Busta Rhymes sind nur kurz mit Interviews vertreten, Williams selbst kommt so gut wie gar nicht zu Wort. Das ist in Ordnung, denn erfahrungsgemäß vernebeln Statements aus den Führungsetagen des HipHop eher die Sicht, als dass sie für Klarheit sorgen. Dreher, der selbst als Videoregisseur gearbeitet hat und hierzulande der wichtigste Popkulturbeauftragte der Öffentlich-Rechtlichen ist, verhindert die Mythenbildung, indem er sich dem Thema aus der Peripherie nähert: Zum einen lässt er Fachleute die Technik von Williams rekonstruieren, zum anderen schlüsselt er die soziokulturellen Zusammenhänge auf.

Der interessanteste Gedanke stammt von dem Kulturtheoretiker Kodwo Eshun, der die überbordenden und hochbeschleunigten Videos einerseits als Folge eines zügellosen Kapitalismus sieht, gleichzeitig aber auch als dessen Unterwanderung. Tatsächlich bleibt in Anbetracht der auf den Kopf gestellten Zeitlogik dieser Nonsens-Spektakel kaum Raum für konsumbezogene Sinnzusammenhänge. Da mögen Missy Elliots Klunker noch so sehr durchs digitale Tohuwabohu funkeln.

Der Ritt auf dem computergerierten Identitätenkarussell wirkt also durchaus befreiend. Als Williams 1996 mit „The Rain“ seine erste Arbeit für Missy Elliot drehte, versah er die Musikerin mit allerlei Körperapplikation; er vergrößerte, verdoppelte, vervielfachte sie. So nahm eine Metamorphose ihren Anfang, die bis heute weitergeführt wird. In jedem ihrer durchdigitalisierten Clips verkörpert der R-’n’-B-Koloss Elliot eine weitere Mutation, gegen die sich der „Terminator“ oft wie Blechspielzeug ausnimmt. Hinter dem unverblümten Spieltrieb steckt Kalkül: Missy Elliot, die zugleich als Künstlerin und Geschäftsfrau, als Songwriterin und Produzentin auftritt, behält während der fantastischen Verwandlungen die Kontrolle über die eigene Repräsentation. Und eben nicht deshalb, weil sie der verbreiteten Illusion nachhängt, als authentische Künstlerseele agieren zu können, sondern weil sie ihre Persona bis in die letzten Details der hochartifiziellen Videos einschreibt. Paradoxerweise hat Hype Williams für Missy Elliot etwas in der Unterhaltungsindustrie ganz Seltenes durchgesetzt: Unabhängigkeit.