Zweiter Schuss ins Schwarze

Im Dämmerzustand: Die niederländische Regisseurin Alize Zandwijk zeigt am Thalia, wie die Kleinstadt funktioniert. Die Schwermütigen und die Säufer aus Tschechows „Iwanow“ hausen an einer gemeinsamen Holztheke, einsam sind sie trotzdem

von Karin Liebe

Ein Schuss beendet die minutenlange Stille. Abgefeuert nach hinten, in die Leere. Niemand getroffen, nichts passiert.

Die niederländische Regisseurin Alize Zandwijk lässt sich Zeit bei ihrer ersten Inszenierung an einer deutschen Bühne, bis es umso lauter knallt im Thalia Theater. Zandwijk ist bekannt für ihr Wechselspiel von ruhigen Passagen und emotionalen Ausbrüchen, und dieses Stilmittel ist wie geschaffen für Tschechows Iwanow.

Erst mal regiert nur die Lethargie. Iwanow (Peter Kurth) liegt regungslos auf einem mit Kissen voll gestopften Canapé. Auch die Menschen um ihn herum sind in sich versunken, starren ins Leere oder räkeln sich träge auf dem Bett. Geschickt verbindet Thomas Rupert die zwei Schauplätze, Iwanows Zimmer und das Haus seines Freundes Lebedjew, durch eine den ganzen Raum umlaufende schmale Holztheke. Auf sie stützt sich der Landarzt Lwow (Thomas Schmauser) und starrt düster auf die dunkle Tapete, während der Säufer Lebedjew am anderen Ende die Wodkaflasche darauf abstellt.

Im Grunde ist diese schmale Holztheke keine Verbindung zwischen den zwei Haushalten. Alle Familienmitglieder und deren Bekannte sind auf ihre Weise unglücklich – und allein. Links der schwermütige Iwanow, der tatenlos zusieht, wie seine Frau langsam an Tuberkulose stirbt, der achselzuckend zusieht, wie sein Gut langsam verfällt und seine Arbeiter keinen Lohn erhalten. Und rechts die Lebedjews mit dem alkoholkranken Familienoberhaupt, der geldgierigen Mutter und einer in Langeweile erstickenden Tochter.

Sascha (Susanne Wolff), die aufmüpfige Tochter, bringt als einzige Leben in diese erstarrten Figuren. Doch auch sie trägt den Keim der Lethargie in sich. Zandwijk symbolisiert das durch ein Geburtstagsgeschenk an die 20- Jährige – eine der wenigen Ausflüge in die Gegenwart bei einer Regisseurin, die sich ansonsten mit Aktualisierungen zurückhält und sich ganz auf das Spiel der Schauspieler verlässt. Dieses Geschenk ist eine barbieähnliche Puppe, ein Miniroboter mit langen blonden Haaren, der mit abgehackten Bewegungen tanzt. Susanne Wolff schaut ihr mit dumpfem Gesichtsausdruck zu, bis sie sich langsam erhebt und wie in Hypnose einen höchst merkwürdigen Tanz aufführt. Mit gebeugtem Rücken groovt sie in Zeitlupenbewegungen über die Bühne, bis sich nach und nach alle anderen diesem in sich gekehrten, in sich gestülpten Tanz anschließen.

Auf der anderen Seite zeigt Zandwijk ganz augenfällig die räumliche Enge einer russischen Kleinstadt, die in Klatsch und Tratsch ihr Ventil findet. Auf Lebedjews Bett drängen sich vier, fünf, sechs Personen, nur Iwanow sitzt allein am anderen Bettende. Es wird geklatscht über ihn, der seine Frau angeblich nur wegen ihres Geldes geheiratet hat und der jetzt nichts mehr von ihr wissen will. Iwanow selbst weiß nicht, was mit ihm los ist, er fühlt sich ausgebrannt, erschöpft – klassische depressive Symptome, würden wir heute sagen. Seine Arme hängen schlaff zur Seite, als Anna (Anna Steffens) mit der Erotik einer Verzweifelten auf ihn springt und abknutscht.

Peter Kurth kann in der Rolle des Iwanow nicht richtig glänzen. Er spricht ihn mit monotoner Stimme, körperlicher Apathie – so wie es sich für einen Depressiven gehört. Doch unwillkürlich blitzen seine Augen, wenn er mal lacht, bricht sich das Schelmische, Charmante in ihm Bahn. Besser besetzt ist da Jörg Pose als Lebedjew. In Sekundenschnelle wechselt er vom katzbuckelnden Säufer zum glasklar die Wahrheit sagenden Intellektuellen – der sofort seine klugen Worte wieder zurücknimmt, wenn sie nicht gehört werden wollen. Eine schillernde Persönlichkeit, die Pose glänzend darstellt. Und eine Inszenierung, die einen über zwei Stunden lang fesselt. Bis zum Schluss der zweite Schuss fällt. Der diesmal ins Schwarze trifft.

Wieder am Freitag, 20 Uhr, Thalia