Gemeinsam stark

Beim Mannschaftszeitfahren ist auch der Beste nur so gut wie der Schlechteste. Die Kunst ist die richtige Dosierung

JOINVILLE taz ■ Wenn Michael Rich sagt, dass Radsport ein Mannschaftssport ist, dann ist das kein Lippenbekenntnis. Der mit 83 Kilo für einen Radfahrer wuchtig wirkende Mann aus Emmendingen hat in seiner Laufbahn deutlich Mannschaftsgeist bewiesen, und so besitzen seine Worte Gewicht. Sein größter Erfolg als Amateur war der Olympiasieg in der Mannschaftsdisziplin Straßenvierer. Außerdem ist der 34-Jährige, seitdem er Rennen fährt, einer einzigen Mannschaft treu geblieben. Schon als das jetzige Team Gerolsteiner noch RSG Öschelbronn hieß und in der Bundesliga startete, gehörte Rich dazu.

Weil Rich ein solch überzeugter Verfechter des Mannschaftsgedankens ist, vertritt er auch feurig die Sache des Mannschaftszeitfahrens. Eine Schande findet er es, dass die Disziplin seit seinem Sieg 1992 bei Olympia nicht mehr gefahren wird; und auch, dass es bis vor zwei Jahren lange Zeit bei der Tour de France kein Mannschaftszeitfahren mehr gab. Ein guter Fahrer würde durch eine mittelmäßige Mannschaft gehandicapt, argumentierten die Gegner des Team-Bewerbs, deshalb wurde er seinerzeit aus dem Programm gestrichen. Übertragen ins Heute: Jan Ullrichs Bianchi-Team gilt als wesentlich weniger geschlossen als Armstrongs US-Postal-Mannschaft – wenn Ullrich also persönlich genauso stark führe wie Armstrong, würde der Amerikaner alleine durch das Mannschaftszeitfahren dennoch die Tour gewinnen.

Genau das findet Rich gut. Wie gesagt: In seinen Augen ist Radsport Mannschaftssport – und das kommt nirgends so deutlich zum Ausdruck wie im Mannschaftszeitfahren. Das heutige von Joinville nach St. Dizier ist 69 Kilometer lang, dafür brauchen die Fahrer knapp eineinhalb Stunden. Alle neun Mann eines Teams starten gemeinsam, mindestens fünf müssen zusammen ins Ziel kommen. Damit das möglichst schnell geht, wechseln sich die neun dabei ab, an der Spitze der Gruppe zu fahren. Dort verlangt bei Tempo 50 der Widerstand des Windes den Männern etwa 30 Prozent mehr Kraft ab, als wenn sie sich hinter den Kollegen verstecken. Wer vorne fährt, verausgabt sich, um das Tempo hoch zu halten, und lässt sich, wenn die Kraft nachlässt, zurückfallen, um sich zu erholen, bis er wieder an der Reihe ist.

Die Kunst des Mannschaftszeitfahrens besteht darin, die Leistungsunterschiede zwischen den einzelnen Fahrern der Mannschaft auszugleichen. „Wenn man der Stärkste ist“, erklärt Rich, „nützt es niemandem, wenn man die anderen seine Überlegenheit spüren lässt. Vielmehr trägt man die Verantwortung dafür, dass die Gruppe zusammenbleibt.“ Der Stärkste muss das Gros der Arbeit an der Spitze, also „im Wind“, verrichten und dabei sein Tempo so dosieren, dass der Schwächste nicht den Anschluss verliert.

„Abreißen lassen“, heißt das unter Radfahrern. Und es passierte vor zwei Jahren sogar in Armstrongs Mannschaft, als der Captain so aufs Tempo drückte, dass keiner seiner Männer mehr mitkam. Armstrong musste warten, der Rhythmus der Gruppe war gebrochen und wichtige Sekunden verloren. Dem Team Gerolsteiner dürfte so etwas nicht passieren. Der Kern der Truppe – Michael Rich und Uwe Peschel – sind ausgesprochene Zeitfahrspezialisten und zudem enorm gut aufeinander eingespielt: Schon beim Olympiasieg im Straßenvierer 1992 fuhren die beiden zusammen. Auch Sprinter Olaf Pollack ist ein Mann, der das vogelschwarmartige Über-die-Landstraße-Gleiten perfekt beherrscht: Pollack war Mitglied des Bahnvierers bei den Olympischen Spielen von Sydney.

Mit so vielen Spezialisten an Bord rechnet sich Gerolsteiner heute natürlich einen großen Coup aus. „Es ist ja nicht verboten, zu gewinnen“, sagt Michael Rich. Teamchef Hans Michael Holczer ist da schon realistischer: „Ein Platz unter den ersten fünf wäre ein großer Erfolg.“

SEBASTIAN MOLL