Akkordsiege im Alltagstrott

Zu Besuch beim weltweit erfolgreichsten Sportler aller Zeiten: Trabrennfahrer Heinz Wewering, der geschäftstüchtige Goldhelm aus Castrop-Rauxel, hat in 38 Jahren 14.925 erste Plätze gesammelt

von BERND MÜLLENDER

„Es ist schon eine absolut gigantische Zahl“, sagt Heinz Wewering, der Fließbandsieger, der Fastimmergewinner. Obwohl er solche Begriffe „gar nicht mag“, denn „jeder Erfolg ist individuell und Handarbeit“ – jeder der mittlerweile 14.925 Siege. Keiner hat so oft ein Trabrennpferd als Erster über den Zielstrich geführt wie der Goldhelm aus Castrop-Rauxel; Heinz Wewering, 53, ist damit der weltweit siegreichste Sportler aller Zeiten.

Montag dieser Woche auf Wewerings Gestüt Forstwald: Seit dem frühen Morgen sitzt er im Sulky, wie jeden Tag. Ein Pferd nach dem anderen bewegen, immer in Zehnminuteneinheiten. Absteigen, aufsteigen, los. Und immer wieder: Telefon. Eine Pflegerin summt grinsend „Null-190… dem Chef ist schon eine Hörmuschel ins Ohr gewachsen.“ Wewering in der verrauchten Stallkabine: Rechts ein Hörer, links ein Hörer, mittig im Mund die Marlboro. Alle wollen was vom Rennfahrer, vom Züchter, Trainer, vom Geschäftsmann Wewering. Jetzt ist gerade Kollege Alwin Schockemöhle an der Strippe. Dann fährt er wieder los. „Noch drei Pferde.“ Alltagstrott beim Star-Trotter.

Keiner ist so viele Rennen gefahren wie Wewering: An die 45.000. Aber auch sonst muss es doch ein Erfolgsgeheimnis geben: „Ach“, sagt „Heinz the Champ“, „die Pferde müssen gut vorbereitet sein, man braucht gute Betreuung, gutes Futter, ein gutes Team. Und alles muss zum Rennen auf den Punkt gebracht sein.“ Auf der Bahn müsse man den Verlauf lesen können, „antizipieren, was passiert, das Gefühl entwickeln, im richtigen Moment das Richtige zu tun. Der Fahrer stellt sich auf das Pferd ein, nicht umgekehrt. Ich bin routiniert, aber die Pferde nie.“

Wewering, gebürtiger Münsteraner, war „von Kind an pferdeversessen“. Berufswunsch Jockey, da habe der strenge Vater gesagt: „Gut, aber es gibt kein Zurück. Kein heute hü, morgen hott!“ 1965 gewann Wewering als 15-Jähriger sein erstes Rennen. Der „Rabe“, wie die Szene ihn wegen der Siegpickerei nennt, holte danach 2 Welt- und 4 Europameistertitel, 26 deutsche Championate und 7 Derbysiege. Nur der große Prix d’Amérique in Paris fehlt. „Vielleicht nächstes Jahr“, sagt Wewering, „ich hatte bislang nie das richtige Pferd zur richtigen Zeit. “

Der „Trainierbetrieb Wewering“, ein Gestüt von 65 Hektar, mit 170 Boxen in exakt angeordneten dunkelbraunen Stallungen und 25 Angestellten, ist wie eine Rennfabrik. Die Organisation gilt als nahezu perfekt, ein Uhrwerk für Hufer. Der mächtige Wohn- und Arbeitsbau der Familie Wewering birgt ein wunderbares Stillleben: Unten in der Doppelgarage türmen sich Pokale und angestaubte Goldhelme auf Simsen, umrahmt von Rennanzügen als Meterware, am Boden Riesentüten Möhren und dahinter schüchtern schimmernd – ein feuerroter Ferrari. Der pferdestarke Dienstwagen. Ansonsten ist alles echtes Pferd: An einer Wand im Büro hängt sogar das „Gebet eines Pferdes“ mit der Bitte um Obdach, Pflege und Versorgung „im Namen dessen, der in einem Stall geboren ist. Amen.“

Mitte Juni war aller Alltagstrott vorbei. Plötzlich musste ganz genau gezählt werden und morgens im Internet recherchiert, was Hervé Filion, 63, der kanadische Konkurrent, in Übersee so angestellt hat. Eine hektische Woche: Mittwoch früh lag Filion noch vorn. Aber dann Donnerstag, 19. Juni: vier Siege für Wewering in Mönchengladbach. Die Marke stand bei 14.911.

Der Weltrekordsportler ist ein gefälliger Mann, eloquent, charmant, westfälisch beherrscht, aber artikulationsbegabt, dazu stahlblaue Augen und markantes Gesicht. Könnte der nicht durch die Shows gereicht werden, bei Gottschalk auf der Couch sitzen? Der Champion lächelt leise. „Dann hätt ich doch keine Zeit mehr fürs Reiten.“ Immerhin hat er Autogrammkarten, auf der Straße aber wird er nur gelegentlich angesprochen.

45 Millionen Euro hat Heinz Wewering in seiner Karriere zusammengetrabt. Ihm geht es gut, der Branche schlecht. Wetten und Preisgelder sind rückläufig, viele Trabrennbahnen von der Pleite bedroht. In Deutschland machen die Traber 150 Millionen Umsatz im Jahr, im Rennsportdorado Frankreich 8 Milliarden. „Es ist eine Schande, wie der Trabsport bei uns vermarktet wird.“ Die Fahrer, sagt Wewering, seien „im Grunde nur die Idioten, fast schon Randfiguren“.

Wewering kann sich in Rage reden. „Im Grunde läuft doch bei uns seit 35 Jahren der gleiche Film ab. Und irgendwann läuft sich das tot. Wir müssten Trab-Events machen, mehr Spektakel, bessere Unterbringung bieten. Neue Leute müssen kommen und sagen: Boah, Trabrennen – da brennt ja die Hölle.“

Am Abend in Dinslaken haben sich, wohlwollend aufgerundet, 1.500 Menschen verlaufen, meist männlich und jenseits der 50. Auf mehrstöckig überdimensionierten Tribünen genießen sie Mettbrötchen zur Erbsensuppe an Resopaltischen und geben auf antiquierten Lochkarten ihre Wetten ab. Alle Wege sind offen, jeder kann zu den Ställen und den Fahrern – Trabrennen: Familientreff mit Zockerverwandtschaft. Außer den Pferden laufen Edelhagen-artige Swingschnulzen und nach jedem Rennen die rituellen Siegerfanfaren. Show und Event? Sind nicht mal als Begriff bekannt.

Der leuchtende Goldhelm des Akkordsiegers bleibt alle neun Male unter ferner trabten: Wütend werfen Wewering-Wetter ihre Lochkarten weg. „Heinz“, ruft einer von der Tribüne, „gib deine Pferde mal wat zu fressen. Die können nix.“ Und die Traberszene lachte.