Wilhelm Tell mit Ballgefühl

Stéphane Chapuisat gilt den Eidgenossen als bester Fußballer, der jemals zwischen ihren Schluchten aufgewachsen ist. Heute spielt der 35-Jährige gegen Deutschland zum 100. Mal für die Schweiz

„100 Länderspiele spielen zu dürfen, das ist schon sehr speziell“

AUS BASEL CHRISTOPH KIESLICH

Bei allen Meistertiteln, die er mit Borussia Dortmund und den Grasshoppers Zürich gefeiert hat, als Champions-League-Sieger und Weltpokalgewinner und welche Ehren ihm noch zuteil geworden sind – einen ganz exklusiven emotionalen Moment erlebte der erst 17-jährige Stéphane Chapuisat im Juni 1986. Da spielte er im kleinen Stadion von Malley in der Westschweiz gegen Renens, und beim Gegner spielte sein Vater Pierre-Albert, von allen Gabet genannt, mit 38 Jahren Libero. Der Junge auf Linksaußen erzielte den ersten Treffer zum 2:0 für den Aufsteiger.

Drei Jahre später, beim 1:0-Sieg gegen Brasilien, debütierte der Filius im Basler „Joggeli“ in der Landesauswahl, und der damalige Schweizer Nationaltrainer Uli Stielike sagte: „Endlich ein linker Flügel ohne Macke.“ Heute schließt sich in Basel der Kreis für Stéphane Chapuisat. Gegen Deutschland (20,15 Uhr, ZDF) wird er im St.-Jakob-Park sein 100. Länderspiel für die Schweiz bestreiten. Damit gehört er nach Heinz Hermann (117) und Alain Geiger (112) als Dritter zum Schweizer Klub der Hundert, doch längst gilt er den Eidgenossen als der beste Fußballer, den sie je hervorgebracht haben. Als zum 50-Jahr-Jubiläum der Uefa europaweit die verdienstvollsten Spieler der Mitgliedsverbände gewählt wurden, schnitt er noch vor dem legendären Karl Odermatt und dem heutigen Nationaltrainer Jakob „Köbi“ Kuhn ab.

Stéphane Chapuisat wird all die Lobpreisungen zu seiner Karriere und zu seinem Jubiläum mit einem verschmitzt-verschämten Blick aus den wasserblauen Augen quittieren und mit den Achseln zucken. „100 Länderspiele spielen zu dürfen ist schon sehr speziell.“ Weiteres größeres Aufhebens passt nicht zu seinem Naturell, das ihn zum „kleinen Prinzen“ machte. In den acht Jahren bei Borussia Dortmund, wo er mit 106 Toren der torgefährlichste Legionär der Bundesliga wurde, ehe ihn Giovane Elber ablöste, galt er dem Klub als „der beste Schütze seit Wilhelm Tell“ (Borussia live), anderen aber auch als „uninterviewbar“.

Eilte seinem Vater stets der Ruf des Enfant terrible voraus, trat der Sohn still und bescheiden auf. Als Stéphane Chapuisat es im Westfalenstadion schon zur Kultfigur gebracht hatte, stellte die FAZ fest, „dass auch Schüchternheit charismatisch sein kann“. Den Rummel um seine Person umkurvte Chapuisat ebenso elegant wie Gegenspieler, und sein Trainer und Förderer Ottmar Hitzfeld („Stéphane war Weltklasse“) bewunderte die fußballerische Hochbegabung auch dafür, „wie abgebrüht er mit den Medien umgeht“. Dabei wollte Stéphane Chapuisat bloß unerkannt durch diese Welt kommen.

Die ersten Tricks für den linken Fuß brachte ihm sein Großvater Henri bei, ein Berufsfischer vom Genfer See, der bei Lausanne Sports Nationalliga-A-Spieler war; Vater Gabet spielte seinerzeit beim FC Paris. In der renommierten Jugendabteilung des FC Red Stars Zürich erinnert sich Eduard Rüegg daran, dass der E-Junior Chapuisat zwar viele Tore schoss, aber es kaum fertig brachte, einen Purzelbaum zu schlagen. Seinen ersten kleinen Vertrag machte Stéphane Chapuisat mit Felix Magath, der damals Manager von Bayer Uerdingen war. „Wenn man sich durchsetzt“, hatte Gabet Chapuisat dem Spross mit auf den Weg gegeben, „kommt das Geld automatisch“. Später, als Stéphane Chapuisat drei Millionen Mark im Jahr verdiente und mit Borussia Dortmund 1997 die Champions League gewann, war er gleichermaßen blendender Vorbereiter wie Torjäger.

Von seiner Antrittsschnelligkeit hat Stéphane Chapuisat eingebüßt, aber in der Schweiz reichte es in dieser Saison auch im Stürmer-Rentneralter noch für die Torjägerkrone mit 23 Treffern, obendrein hat er 25 weitere Tore vorbereitet. Insgesamt wurden für Chapuisat in 486 Meisterschaftsspielen seiner Karriere 230 Tore zusammengezählt, eine Bilanz, die Vater Gabet „sensationell“ nennt: „Eigentlich ist er unerreichbar.“ 1995, als Stéphane Chapuisat im Training mit Co-Trainer Michael Henke zusammenstieß und der Operateur das rechte Knie zerfetzt vorfand, machte sich „Chappi“ selbst Mut: „Wenn man ein Leben lang den Ball als Freund hat, ist diese Beziehung nicht über Nacht weg.“ Sein Ballgefühl und seine Spielintelligenz sind ihm geblieben.

Bei der Europameisterschaft 2004, seinem finalen internationalen Auftritt, wird es auf Stéphane Chapuisat mehr denn je ankommen. Nach der tragischen Verletzung von VfB-Stürmer Marco Streller, der sich am Pfingstsonntag im Training Schien- und Wadenbein brach, werden die Erwartungen auf den Schultern Chapuisats und von Alex Frei lasten. Der Basler Frei hat es in dieser Saison immerhin auf 20 Tore für Stade Rennes in der Ligue 1 gebracht und war damit hinter Djibril Cissé zweitbester Torschütze in Frankreich. In der Nationalmannschaft hat Frei zudem die bemerkenswerte Quote von 15 Treffern in 25 Länderspielen, die Erfahrung von zwei Endrundenturnieren (WM 1994, EM 1996) und den 99 Länderspielen (21 Tore) von Chapuisat besitzt der 24-Jährige indes nicht.

Aber Erfolgsdruck ist etwas, das man mit fast 36 Jahren einigermaßen gelassen wegstecken kann. Gerade hat Stéphane Chapuisat seinem Trainer Hans-Peter Zaugg von den Young Boys Bern versprochen, noch eine Saison dranzuhängen. Denn auch nach 17 Profijahren fragt sich Stéphane Chapuisat: „Was gibt es Schöneres, als Fußball zu spielen?“