Politische Körper

Das SCHLAGLOCH von Mathias Greffrath

Wenn die Demokratie universelle Norm würde, hieße das für die Industrienationen: ärmer werden

„Wie hält denn der die Arme …“ Das Kichern drang bis in die Küche. „Kommt doch mal, schnell. So ein merkwürdiger politischer Körper …“ Wir kamen zu spät, der Fernseher zeigte Szenen aus Bagdad. „Politischer Körper?“, fragte ich die Nichte, die mit ihrer Schwester zu Besuch war; die große, um zu demonstrieren, die kleine, um zu shoppen. „Politischer Körper, was meinst du denn damit? Und über wen hast du so gelacht?“

„Na ja“, sagte sie, „das lernen wir grade in Geschichte.“ Und sie erklärte mir die Theorie von den zwei Körpern des Königs – seinem privaten, menschlichen „Leib“, der als gesalbter und gekrönter öffentlicher „Körper“ die göttliche Ordnung auf Erden vertritt, gemäß der es Herren gibt und Knechte. „Und mit diesem doppelten Körper“, so schloss sie ihren Kurzvortrag, „war dann Schluss, als die Franzosen ihren König köpften …“ „Und die arme Königin musste auf die Guillotine …“, kam es aus dem gelangweilt zusammengerollten Körper der kleinen Schwester auf dem Sofa. „War aber unvermeidlich“, sagte die Große und zappte in den Programmen herum; gerade entschuldigte sich Präsident Bush. „Solange das Volk an die Göttlichkeit der Könige glaubte, hätte es sich nie getraut, Demokratie zu machen. Wenn die nicht gesehen hätten: Man kann den König köpfen, ohne dass die Welt untergeht. Und im Übrigen gingen jedes Jahr mehr Bauernleiber an Hunger zugrunde, als in der ganzen Revolution enthauptet wurden.“ Ein paar gut materialistische Lehrer gibt es doch noch, dachte ich.

„Trotzdem schade“, nickelte die Kleine, „der ganze Glamour ist weg, nur noch schwarze Anzüge. Irgendwie war das schöner damals …“ Sie nölte vor sich hin, die Demokratie könne gut auch einen zweiten Körper gebrauchen, als die Große loskreischte: „Da ist er wieder! Seht euch den doch an! Wie der die Arme hält, wie der das repräsentiert …“ Die Bilder zeigten den Kanzler, von hinten, wie er irgendwelche Stufen runterging, mit steifen Schultern. Die Arme hingen. Sie schwangen kein bisschen im Rhythmus der Beine, sie fielen schlaff zur Erde. „Kein Mensch geht so, nur der“, sagte die Nichte. „Und was soll das nun repräsentieren?“, krähte die Kleine. „Na, dass er handlungsunfähig ist. Dass das Organ, mit dem Menschen etwas bewegen, anschieben, entwirren, gestalten, etwas durchkämpfen, bei ihm verkümmert ist. Hängt doch wie ausgestopft.“ Sie hatte Recht. Es sah ungewöhnlich aus. „Es könnte doch sein“, gab ich zu bedenken, „dass er sie angespannt nach unten streckt.“ Die Nichte redete sich in Fahrt: „Aber das wäre ja noch schlimmer, körpersprachlich gesehen. Das hieße ja, er muss sich geradezu anstrengen, um nicht zu handeln, mühsam die Reste an Sozialdemokratie, die in ihm stecken, unterdrücken.“ „Sieht aus wie ’ne Schaufensterpuppe“, meinte die Kleine. „Sag ich doch: Die Demokratie braucht einen neuen Körper.“

Und dann zogen die beiden los, die eine zu H & M, die andere zur Demonstration. Und ließen mich mit der Frage zurück: Wie sieht der Körper der Demokratie aus? Hat auch sie zwei davon? Ist die Rede vom „Körper des Souveräns“ mehr als ein Relikt der politischen Metaphysik? Der Philosoph Paolo Flores d’Arcais hat den alteuropäischen Begriff jüngst wiederaufleben lassen. Auf unmetaphysische Weise nimmt er ihn ernst und damit „Die Demokratie beim Wort“ (Wagenbach Verlag, 2004). Deren Fundament sei nicht irgendein natürliches Recht oder ein Menschenrechtskatalog, sondern allein die Mehrheitsentscheidung, der formale Akt der freien Wahl von Individuen, die einzig ihrem individuellen politischen Willen folgen – weder durch höhere Vernunft gebunden noch durch volonté genérale, Nationalgeist, Rassengesetz, Klassenbewusstsein, die vermeintlichen Gesetze des Marktes, Autoritäten, die allesamt totalitär missbrauchbar sind. Mehr als den Individualismus und die formale Regel braucht es nicht. Ohne irgendeine soziale oder gar sozialistische Zielsetzung landet Flores d’Arcais damit bei grundstürzenden Konsequenzen: Damit Bürger frei entscheiden können, müssen logischerweise die „physiologischen Minimalvoraussetzungen der Möglichkeit der Teilhabe an der Macht“ gesichert sein. Und die sind leiblich: Wo Hunger herrscht, wird Demokratie verweigert. Ohne ein Grundeinkommen, ausreichend für das, was die „Mehrheit einer bestimmten Gesellschaft“ jeweils unter einer „menschenwürdigen Existenz“ versteht, und ohne die absolute Gleichheit aller angesichts von Krankheit und Tod gibt es keine „politische Existenz“, sondern nur einen „animalischen Überlebenskampf“. Vor dem wird alles Reden über das Individuum und Demokratie zum „finsteren Spott“. Grundeinkommen auf dem erreichten zivilisatorischen Niveau, Recht auf Wohnung, gleiche medizinische Versorgung für alle – das sind keine sozialen, also verhandelbaren „Ansprüche“, sondern die Mindestvoraussetzungen für Demokratie. Und weiter: Freiheit der Wahl setzt „Entscheidungsfähigkeit“ voraus, also freie Bildung, die ausnahmslos alle mit den differenzierten Kenntnissen ausstattet, die sie benötigen, „um bewusst die eigene Macht in der Gemeinschaft wahrzunehmen“. Oder, mit dem schönen Wort von Reinhard Ueberhorst: „Meinungserarbeitungsfreiheit“. Und weiter noch: Medien, die nicht von ökonomischen Imperativen gesteuert werden, sondern ausnahmslos allen Bürgern und Meinungen freien Zugang gewähren.

Philosophische Erwägungen wie diese laufen auf mehr als Reformen hinaus, und politische „Realisten“ nennen sie deshalb naiv oder normativ. Das Leben sei nicht so, lehrten die Erfahrung und Luhmann. Mag ja sein, sagt der politische Philosoph aus dem Land der avanciertesten Fernsehdiktatur Europas, aber dann gibt es keinen Grund, diesen Zustand Demokratie zu nennen.

Ein kühler Wind weht durch seine Analyse: „Wir erleben einen clash of civilisations im Westen selbst, zwischen der Demokratie als bloßem Geschwätz des Establishments, das ihre Prinzipien im Müll seines täglichen Regierens zertrampelt, und der beim Wort genommenen Demokratie mit ihren unbeugsamen, substantiellen Forderungen.“ Einen Clash, der „den Westen am Ende dazu zwingen wird, seine Werte auch in den Verfassungen zu leugnen“.

Demokratie braucht einen neuen Körper – nicht nur, weil des Kanzlers Arme schlaff nach unten hängen

Gedanken wie diese schaffen Klarheit, aber zugleich stoßen sie uns in das Gefühl der kollektiven Ohnmacht, der die hängenden Arme des Kanzlers so sinnfällig Ausdruck geben. Aber was würde passieren, wenn Millionen begriffen – und verinnerlichten –, dass sie nicht für soziale Forderungen, Besitzstände, ein wenig Umverteilung vom gemeinsam erarbeiteten Sozialprodukt auf die Straße gehen, sondern für den Aufbau der Demokratie, nicht für das Überleben des Sozialstaats, sondern für die endliche Geburt des politischen Körpers der Demokratie – ohne den es schlecht um unsere Leiber steht?

Und – da die Demokratie universelle Norm geworden ist: Wie wird am Ende die massenhafte Wahl ausgehen zwischen ihr und der Rechtfertigung der nackten, faktischen Machtverhältnisse, die Stabilität, Effizienz und das Gewohnte sichern, wenn es um den demokratischen Ausgleich zwischen den alten Industrienationen und dem jungen Süden geht? Wenn Demokratie heißt: ärmer werden? Spannende Aussichten für die Nichten – aber nicht unbedingt schöne.

Fotohinweis: Mathias Greffrath lebt als Publizist in Berlin